Die neue Normalität wird im Ausnahmezustand verhandelt. Denn das totalitäre Thema Pandemie polarisiert die gesellschaftliche Debatten weiter. Wann wirken da Verschwörungstheorien toxisch und wann therapeutisch?
UPDATE 7.5.2020: Diesen Text habe ich am 6. Mai veröffentlicht. Schlechtes Timing. Den am selben Tag und ohne dass ich es geahnt hätte, haben sowohl das renommierte Socialmediawatchblog als auch der prominente Netzversteher und -erklärer Sascha Lobo zum Thema Verschwörungstheorien gepostet. Sowohl der profunde Text von Simon Hurtz als auch der pointierte Aufschlag von Sascha verdienen große Aufmerksamkeit.
Meine Auseinandersetzung mit der Corona-Kommunikation hat einen etwas anderen Blickwinkel – auch wenn er in den genannten Texten ebenfalls berührt wird: Ambivalenz. Zwischen bedingungslosem Maßnahmengehorsam und gewaltsamen „Widerstand“ verläuft eine breite Zone der Unsicherheit. Womit ich keine ethische Gleichsetzung bezwecke. Auch ich gehorche in der aktuellen Lage lieber.
Zumal wenn ich die widerlichen Bilder einer Spinner-Demo in Berlin sehe, auf der aggressive und destruktive Zeitgenossen unter anderem auf ein TV-Team der ARD losgehen. Nur glaube ich auch, dass man durch allzu schnelles Aburteilen von Zweifel und Zweiflern genau diesen Kräften weitere Verzweifelte zutreiben würde.
Soviel zur Auffrischung und zum besseren Verständnis des folgenden Textes, auch seiner Länge. Sorry. Zudem versuche ich noch, einige meiner Rechtschreib-Inkonsistenzen zu beseitigen. Nochmal sorry.
Vorweg eine Zusammenfassung (tl;dr). Dieser Post ist nämlich grundsätzlich und daher lang. Sein Ausgangspunkt ist immerhin schnell beschrieben: Die soziale Distanz lässt uns medial näher zusammenrücken. Daher fragt sich, ob die redaktionelle Gesellschaft weit genug ist, um das Neue Normal einigermaßen friedfertig zu vereinbaren. Vieles hängt dabei an einer reifen Haltung gegenüber unreifen Gedanken, besser bekannt als Verschwörungstheorien. Diese können auf zweierlei Art wirken – toxisch und therapeutisch. Der Umgang mit ihnen ist eine Schlüsselkompetenz medialer Mündigkeit in der redaktionellen Gesellschaft. Und kein Hexenwerk.
Als Einstimmung zunächst ein Blick auf Venedig: Die Stadt ist mal wieder ein symbolischer Hotspot, aktuell für Shutdown der harten Sorte. Mit ihren Vorher-/Nachher-Bildern führt die Journalistin und Lagunenbewohnerin Petra Reski uns dies deutlich vor Augen. Während früher Menschenmassen die Stadt fast erstickten, wirkt sie heute wie tot. Traurig sind beide Extreme.
Finde den Unterschied. #Venedig #Rialtobrücke #Coronavirus pic.twitter.com/7cOKcGM5iX
— Petra Reski (@PetraReski) April 25, 2020
Daher die Aufgabe: Wie könnte eine Neuinszenierung aussehen, um die Weltbühne wiederzubeleben? Wie finden wir hier und anderswo eine bessere, geläuterte Realität, jene „Neue Normalität“, nach der sich alle so sehr sehnen? Der Weg dorthin führt über das gemeinsame Normieren.
Nur: Wie bringt sich eine globalisierte Gesellschaft überhaupt auf einen Nenner, der Sicherheit und Freiheit garantiert? Noch dazu aus einem Ausnahmezustand heraus? Es ist eine Machtfrage. Was in einer Informationsgesellschaft heißt: eine Frage der Deutungsmacht.
Das Reden über die Regeln folgt den Regeln des Redens. Um letztere geht es in diesem Blog vor allem, um Medienmeta. Denn Journalismus vermittelt nicht nur, er steht dabei immer auch selbst zur Debatte. Derzeit steht besonders viel auf dem Spiel. Wenn gesellschaftliche Verständigung jetzt misslingt, ist nicht nur die Gesundheit gefährdet, sondern ein weiterer, fundamentaler sozialer Wert: die Friedfertigkeit. Wie verbissen Meinungskampf geworden ist, lesen wir seit einigen Jahren an den Reizthemen Flucht oder Klima deutlich ab. Ein neuer, bedenklicher Auswuchs, ist der gewalttätige Überfall auf ein ZDF-Team in Berlin.
Diese Hochspannung hat eine bekannte Ursache: Polarisierung, das Aufheizen mit „Dichotom-Energie“. Darunter verstehe ich: Behaupten in unversöhnlicher Ausschließlichkeit, Schwarzweißdenken, also letztlich Diskussionsverweigerung. Dies steht im Gegensatz zum Meinungsstreit, der sich auf Begründungen bezieht und prinzipiell offen ist für das Argument der Gegenseite.
Corona-Polarisierung: Lock-Warte gegen Lockerungsvögel
Beim Deutungsmachtkampf geht es um Sagbarkeit und Sichtbarkeit in der (massen-) medialen Öffentlichkeit. Also um Grenzen. Wenn über den Umgang mit der Corona-Pandemie gestritten wird, stehen sich Lock-Warte und Lockerungsvögel feindselig gegenüber. Eine beispielhafte mediale Beobachtung dazu betrifft die prominenten Journalisten Jacob Augstein und Jan Fleischhauer. Der linksorientierte („Freitag“) Augstein und der konservative Fleischhauer („Focus“) bilden eine Art diskursives Hufeisen mit ihrem Podcast zum Thema Corona „The Curve“.
Ihnen wirft das Medien-Watchblog Übermedien kalkulierte Naivität vor, wenn sich die beiden über die Regierungspolitik der Grundrechtseinschränkungen echauffieren und dabei recht locker Zweifel an der RKI-Zahlenmagie säen. Übermedien-Autor Stefan Niggemeier kritisiert das dunkel Raunende noch differenziert professionell. Im Anschluss und im Kommentariat radikalisiert sich dann die Branchendebatte.
Bitte nennen wir @Augstein und @janfleischhauer nicht mehr Journalisten. https://t.co/Md0GrZDk8b
— Thomas Knuewer (@tknuewer) April 28, 2020
Vom „Wir“ zum „Ihr nicht!“ Eingrenzen und Ausgrenzen sind existenzielle Prozesse im gesellschaftlichen Miteinander. Starker Tobak für Jacob und Jan, die eigentlich nur Kienzle-und-Hauser-Reloaded veranstalten, um sich über die Verhältnismässigkeit von Grundrechtseinschränkungen zu unterhalten. Wenn dann Abgrenzung derart kategorial wie in diesem Beispiel gehandhabt wird, brennt wohl schon die Luft.
Infodemie: facts and fakes
Medial muss keiner nachgeben. Denn durch die Möglichkeitsexplosion digitaler Vernetzung hat sich die Pandemie ohnehin bereits zur Infodemie ausgewachsen. In einer Informationsgesellschaft ist schließlich Platz für alle und alles – in Echtzeit. Fakt konkurriert mit Fake, Schulmedizin mit alternativer Heilkunst, klassischer Journalismus mit Alternativmedium. Wenn es tatsächlich einen infodemischen Virus geben sollte, würden manche ihn wohl „Verschwörungstheorie“ nennen.
Als Hotspots ihrer Verbreitung wurden bereits einschlägige Angebote vor allem in sozialen Medien identifiziert. Fact-Checker wie das Portal Correctiv etwa benennt die „fragwürdigen Youtube-Doktoren“. Facebook und Co. sehen sich massiv dem Drängen auf Korrektur oder gar Zensur ausgesetzt. Eine aktuelle Studie der Uni Münster (Svenja Boberg, Thorsten Quandt, Tim Schatto-Eckrodt, Lena Frischlich) bleibt da vorsichtiger. Untersucht wurde die Corona-Berichterstattung alternativer Medienmarken auf Facebook. Befund: Offenkundige Lügen werden kaum verbreitet, dafür allerdings überwiegend einseitige, dem Mainstream widersprechende Darstellungen. Sie sollen Systemzweifel am Regierungshandeln stützen. Von einem Verbot entsprechender Angebote raten die Autor/-innen der Studie aber ab, um gerade in Krisenzeiten demokratische Debattenkultur nicht zu beschädigen. Das sei kontraproduktiv.
Geschickter erscheint es, sich mit der Funktion von Verschwörungstheorien vertraut zu machen. Dann ließe sich ein Umgang damit entwickeln, der nicht zu neuen Verschwörungstheorien führt. Dies lohnt sich auch deshalb, weil irritierende Texte, Bilder und Töne zu Corona uns ja nicht immer durch den Nazi vom Dienst zugesendet werden. Vermutlich habe nicht nur ich die Erfahrung gemacht, dass im beruflichen oder privaten Umfeld sonst verträgliche Bekannte und Freunde auf derlei Inhalte anspringen.
Zum Thema Verschwörungstheorie ist bereits geforscht worden. Neben der medialen Perspektive erscheint dabei vor allem die psychologische interessant. Marius Raab, Carl-Christian Carbon und Claudia Muth haben da 2017 ein hilfreiches, pragmatisches Buch vorgelegt: „Am Anfang war die Verschwörungstheorie“. Die Autorin und der Autor sind durchaus von dieser Welt, weder Lacksäufer noch Aluhut-Träger. Dennoch zeigen sie Verständnis:
Als Psychologinnen und Psychologen stellen sich uns aber auch die Nackenhaare auf, wenn wir die Dynamik der medialen Aufregung zum Thema Verschwörung und Verschwörungstheorien der vergangenen Monate und Jahre sehen. Angeblich postfaktische Weltbilder und sogenannte Fake News werden von vielen Beteiligten des öffentlichen Diskurses unter dem Begriff Verschwörungstheorie“ zusammengefasst. Die Fronten verhärten sich, wichtige Kommunikation bricht ab.
Aus psycholgischer Sicht kommt das Autorenkollektiv zu ihrer zentralen These: Verschwörungstheorien greifen meistens Ängste auf. Ich sehe darin ein recht spezielles Theupeutikum für die Sozialpsyche. Das Buch will vor allem eine Schrittfolge zur souveränen Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien beschreiben. Als Erstes sei zu klären, ob es sich überhaupt um eine handelt. Falls ja, stellten sich drei Fragen: Was ist die Kernbotschaft? Ist die Argumentation rational? Wären die Folgen schlimm?
Fallstudie: Die Dissidenten-Doktoren
Am besten lassen sich diese, von mir gerafften Analysestufen an einem Beispiel erläutern. Dr. Thomas Hardtmuth hat Ostern 2020 „Anmerkungen zum CORONA-Syndrom“ verfasst. Das Papier kursiert meines Wissens vor allem in anthroposophischen Kontexten. Mich hat der Link dazu als Diskussionsgrundlage für einen privaten Gesprächskreis erreicht.
Der Autor Thomas Hardtmuth, Jahrgang 1958, ist Arzt (Chirurgie), Buchautor („Medizin im Würgegriff des Profits“) und war 2019 Kreistagskandidat der Grünen. Ob er sich jetzt gerade in seiner Partei einen Palmer-Status erarbeitet, weiß ich nicht. Aber Hardtmuths Position zur offiziellen restriktiven Corona-Politik – die insgesamt auch von den Grünen mitgetragen wird – ist klar contra:
Die derzeitige globale Corona-Panik-Pandemie in all ihren Facetten könnte sich am Ende als ein Lehrstück dafür herausstellen, welches Chaos entstehen kann, wenn Angst, Unkenntnis, panischer Aktionismus und skrupellose Geschäftsinteressen zu einem nicht mehr beherrschbaren Selbstläufer verschmelzen.
Damit steht der angesehene Arzt Dr. Hardtmuth an der Seite von extrem systemkritischen Ärzten, die vor allem auf Social Media-Kanälen publizieren: Allerdings erzeugte er bislang weit weniger Resonanz als Dr. Wolfgang Wodarg („Corona – kein Grund zur Panik?“, 1,5 Mio. Views auf Youtube, Stand 05.05.2020) und verfügt zudem über keine mächtige Alternativmedien-Plattform wie Dr. Gerd Reuter („Der Corona-Schwindel“, Rubikon). Dr. Hardtmuths Renommee verschafft ihm auch nicht dieselbe Aufmerksamkeit wie Prof. Dr. Sucharit Bakhdi („Wahn ohne Ende“, Servus TV). Erst recht gehört er nicht zu den Gründern einer zwielichtigen Partei („Widerstand 2020“) wie Dr. Bodo Schiffmann („Schwindelambulanz Sinsheim“, eigener Youtube-Kanal). Was zudem an den genannten Alternativ-Celebrities und ihren Interviewstichwortgebern auffällt, ist das Genussbad in der allgemeinen Ablehnung durchs Establishment: „Wir Erleuchteten …“
Aber trotz dieser Unterschiede darf man bei Dr. Hardtmuth einen Anfangsverdacht auf Verschwörungstheorie hegen. Denn neben der Auffassung zu Corona verbindet ihn mit Dr. Wodarg & Co. noch mindestens ein weiterer Inhalt: Heftige Grundsatzkritik an den Mainstreammedien. Denn überforderte Politiker neigten seiner Meinung nach „im medialen Dauergetöse und unter dem Einfluss überaktiver Pharma-Lobbyisten zu unbedachten Überreaktionen, wie es aktuell zu beobachten ist.“
Prüfen wir also durch, Schritt für Schritt.
- Schritt : Ist es eine Verschwörungstheorie?
Teil des Problems ist sicherlich, dass man unter einer solchen Theorie vieles verstehen kann. Abgedrehtes mit Außerirdischen (eher nicht glaubwürdig) ebenso wie Abhörkomplotts von Geheimdiensten (durchaus realistisch). Raab et al. haben eine daher eine Arbeits-Definition parat:
Eine Verschwörungstheorie basiert meist auf einem merkwürdigen Ereignis; bietet einen Überfluss an Information; integriert bestimmte Erzählelemente; stellt einen Bezug zu den eigenen Werten her; unterstellt Kausalität und Absicht (aufseiten der Verschwörerinnen und Verschwörer); und bietet Lücken und Widersprüche, sodass Menschen herausgefordert werden die Theorie weiterzuentwickeln.
Wie dem verlinkten Text zu entnehmen ist, findet Dr. Hardtmuth die weltweite Reaktion auf Corona merkwürdig und bezieht sich auf einen starken Überfluss verwirrenden Informationen dazu (womit er kaum allein dastehen dürfte). Aber diese Lage führt er nicht auf das Wüten des Virus zurück, sondern auf eine medial orchestrierte Panikmache, mit der „Eliten der globalen Gesundheitsindustrie“ – darunter Bill und Melinda Gates mit ihrer Stiftung – eigene Geschäftsinteressen verfolgen. Inkompetente Politiker/-innen würden sie daran nicht hindern. Womit der Autor das Thema tatsächlich aus seiner ökologischen und anthroposophischen Wertorientierung in Richtung Verschwörungstheorie gedreht hat, ins so genannte Big Pharma.
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Schritt: Was ist die Kernbotschaft?
In Ansätzen wurde sie schon genannt. Noch einmal zugespitzt: Die weltweite Impf-Lobby erzeugt mit Medienhilfe aus Gier künstlich Pandemiepanik und verschweigt gleichzeitig den wahren Weg zur Gesundheit, nämlich ein intaktes Verhältnis zur Natur und ein humanes Miteinander der Menschheit.
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Schritt: Ist die Argumentation rational?
Ja, wenn auch mit Abstrichen. Mein Kompetenz reicht nur, die Argumentationsweise zu beurteilen. Bei der Frage, wie zuverlässig der PCR-Test ist, bin ich sachlich am Limit. Dr. Hartmuth baut seine Thesen überwiegend faktenbasiert auf, arbeitet mit nachvollziehbaren Beispielen und ein paar Referenzen. Medizinwissenschaftlichen Standards wird das vermutlich nicht genügen. Und auch die Quellenangaben scheinen einem Bestätigungs-Bias zu unterliegen. So zitiert er ein „exzellent recherchiertes und wissenschaftlich absolut seriöses Buch“. Allein der schon dessen reißerischer Titel „Viruswahn. Wie die Medizin-Industrie ständig Seuchen erfindet und auf Kosten der Allgemeinheit Milliardenprofite Macht“ lässt da Zweifel aufkommen.
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Schritt: Wären die Folgen schlimm?
Zunächst: Es gibt toxische Thesen. Oft sind sie rassistisch grundiert. Verschwörungstheorien können schweren Schaden anrichten und haben das bereits getan. An Leib und Seele und Gesellschaft. Kein diskursiver Wert kann etwa das Gelaber von „Brunnenvergiftern“ rechtfertigen.
Meist aber entsteht eher Ambivalenz bei der Folgenabschätzung von Verschwörungstheorien. So auch hier: Einerseits könnte es äußerst riskant für die allgemeine Gesundheit werden, wenn die Menschen mit der Erkenntnis „alles nur Panikmache“ jegliche Corona-Sorge sausen ließen. Dafür erscheinen die Modelle des Wegrechnens der Pandemie selbst mir als Laien zu waghalsig. Erst recht besorgniserregend wäre es, wenn sich keiner mehr impfen lassen wollte, egal wogegen. Zudem hinterlässt die Dämonisierung des Ehepaar Gates einen negativen Beigeschmack.
Auf der anderen Seite greift der Text von Dr. Hardtmuth eine plausible Kritik am Gesundheitssystem auf. Sie wurde auch bereits in den klassischen Medien häufig geäußert. Übrigens ein Umstand, den Verschwörungstheoretiker oft übersehen: Kritischer Journalismus – beispielsweise in den öffentlich-rechtlichen Politmagazinen – hat viele ihrer Themen bereits längst aufgegriffen. Teilweise konnten die Protagonisten von verschwörerischen Theorien selbst dort auftreten. Was spräche denn auch dagegen, den Umgang mit der Natur und miteinander besser in Balance zu bringen? Das wurde ja unter dem Aspekt Klima bereits breit diskutiert. Also: Weniger Geld für GlaxoSmithKline und weniger Stress für Mensch und Umwelt – warum eigentlich nicht?
Wären die Folgen der Theorie von Dr. Hardtmuth also schlimm? Teils, teils, lautet die wenig befriedigende Antwort. Ihre Anschlussfähigkeit an die radikale, aggressive Establishment-Kritik sowie die nicht unwesentlichen Risiken und Nebenwirkungen ihrer Umsetzung (Impf-Verzicht etwa) wiegen schwer. Andere Teile des Textes benennen deutlich notwendige Diskussionspunkte. Zum Beispiel: Welche Fehlentwicklungen haben zu dieser Krise geführt und ist der Umgang mit ihr verhältnismäßig? Zweifel am bisherigen Lebensstil und an der offiziellen Reaktion auf Corona sind erlaubt, müssen erlaubt bleiben. Auf den Umgang damit kommt es an.
Im privaten Umfeld konnte ich das Papier mit einer statthaften Videogruppe diskutieren. Darunter waren einige Schulmediziner. Als tumbe Erfüllungsgehilfen des Impfkartels fanden sie sich falsch besetzt. Kritik an Fehlentwicklungen im Gesundheitssystem war ihnen andererseits auch nicht fremd. Und gestandene Unternehmer bewegten offenkundig Kapitalismuskritik und Nachhaltigkeitsmahnung in ihren Herzen.
Diagnose und Behandlung: Verschwörungstheorie in der redaktionellen Gesellschaft
Ans Ende dieser Betrachtung gehört – um im medizinischen Bild zu bleiben – natürlich eine Diagnose und ein Behandlungsvorschlag.
In diesem Post ging es um die Frage, wie unsere Mediengesellschaft ihre neue Normalität aushandelt. Es fiel auf, dass zunächst ein kategorischer Deutungskampf um Lockdown versus Lockerung entbrannt ist. Dabei geht es vor allem um Grenzen der Sagbarkeit und der Sichtbarkeit, also um Inklusion und Exklusion von Sprecherrollen zum Thema. Hier zeigte sich, dass einige Stimmen im etablierten Mediengeschehen nicht mehr erwünscht sind und deshalb vorwiegend in alternativen Foren stattfinden. Dort simmern sie. Und beeinflussen dennoch, insbesondere über private Links, die Diskurse zu Corona. So dürfte sich im Ergebnis die Polarisierung weiter verschärfen. Das Fallbeispiel des systemkritischen Textes eines Mediziners wiederum zeigte die Ambivalenz von Verschwörungstheorien – gefährliche Destruktion und konstruktive Irritation. Toxisch und therapeutisch eben.
Ein Ansatz, die Polarisierung herunter zu regeln, könnte darin liegen, differenzierter mit Verschwörungstheorien umzugehen. Der Konjunktiv hängt mit der genannten Ambivalenz zusammen. Denn Texte wie der hier exemplarisch verhandelte könnten durchaus Schaden anrichten, mit ihren pauschalen Anschuldigungen an Personen oder ihren waghalsigen medizinischen Empfehlungen. Allerdings wäre es ebenfalls riskant, ihr Anregungspotenzial für die Debatte um bisherige Fehlsteuerungen zu ignorieren. Konstruktive Ansätze würden so übersehen. Zudem könnten weggedrängte Positionen sich im Abseits radikalisieren und an die falsche Adresse geraten.
Was wäre also zu tun? Neben der Parole vom Durchhalten von Maßnahmen geht es in den kommenden Wochen und Monaten auch stark ums Aushalten von Inhalten. Denn es nützt nichts, sich einen der Pole weg zu wünschen, wenn die Spannung zu sehr steigt. System-, Eliten- und Medienkritik gehört zum gesellschaftlichen Normierungsprozess, der auch eine Auseinandersetzung mit diffusen Ängsten ist. Toleranz demgegenüber schließt nicht aus, destruktive Kraftquellen als ultima ratio ausschalten, wenn es nicht anders geht. Nur nicht den Saft ganz abdrehen.
Die maßgebliche Empfehlung liegt daher darin, die redaktionelle Gesellschaft weiter zu entwickeln. Denn jenseits des professionellen Journalismus haben letztlich alle vernetzten Menschen mehr publizistische Verantwortung bekommen. Medienkompetenz ist als Begriff leider sehr blutleer geblieben. „Medienmündigkeit“, wie sie Bernhard Pörksen vorschlägt, beschreibt die notwendige Fähigkeit vielleicht besser. Pörksens Handlungshinweise seien hier zustimmend zitiert:
- Kritisches Quellenbewusstsein entwickeln
- Zögern als skeptische Reflexion
- Maß halten zwischen Anteilnahme und Abgrenzung
Quellen: Woher stammen die Informationen? Von Experten? Vertraue ich dem Absender? Hört sich erstmal simpel an. Allerdings erfordert das schon etwas Aufwand sowie die Bereitschaft, auch einmal vom Gewohnten abzuweichen und sich in andere Diskussionswelten zu wagen.
Skepsis: Muss ich das wirklich kommentieren oder weiterleiten? Das ist eine gute Übung im Grundparadox des Journalismus: Veröffentlichen besteht zu einem Großteil im Weglassen von verzichtbaren oder schädlichen Inhalten.
Maß: Brauche ich jetzt die Goldwaage? Der leicht zynische Sozialgr0ßtheoretiker Niklas Luhmann hat es mal als sehr unwahrscheinlich erklärt, dass Menschen sich wirklich verständigen. Das hilft vielleicht, um die Luft aus manchem Prinzipienstreit zu lassen.
Das sind, wohlgemerkt, keine Tipps für die Profis, sondern fürs aktivierte Publikum. Aufgabe der Journalist/-innen wäre es, sich mit dieser Ermächtigung der Nutzer/-innen selbst neu aufzustellen. Dazu gehört sicher weiterhin, Inhalt für die Gesellschaft bereit zustellen, aber auch toxische Thesen zu identifizieren und zu benennen.
Hinzu kommt eine neue Sensibilität, nämlich zu bemerken, wann die Rede von Verschwörungstheorien selbst eine Verschwörungstheorie ist. Bleiben Sie gesund!
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