Vorratsdatenspeicherung beschlossen? Ja. Ende der Debatte um die Macht im Netz? Nein. Der Beschluss des Bundestages zur anlasslosen „Höchstspeicherdauer“ der Kommunikationsdaten aller Bürger ist nur ein weiterer vergeblicher Versuch, „Neuland“ zurück zu erobern.
Vorweg: Das bisschen Recht, das ich studiert habe, würde für eine Expertise nie reichen, das bisschen Verstand wahrscheinlich auch nicht. Also verlasse ich mich auf mein Gefühl. Denn wie beim Kind in „Des Kaisers neue Kleider“ reicht ein kurzer, naiver Blick, um festzustellen: Die alten Autoritäten stehen in jüngerer Zeit ziemlich nackig da.
- Beim Versuch, zwei Blogger wegen geleakter Interna als Landesverräter zu verfolgen.
- Beim Versuch, Facebook zum Wächter über demokratische Diskussionskultur zu ernennen.
- Beim Versuch, durch reine Behauptung einen Safe Habor für Daten zu schaffen.
Auch das nagelneue VDS-Gesetz wird nach ein paar Klagen wackeln oder gar fallen.
Wir erleben im Grunde als Aktivismus getarnte Ohnmachtsanfälle der alten Eliten. Ein letztes Zucken einer vor-digitalen Ordnung, bevor sie endgültig zusammen bricht, aufgelöst von den neuen Verhältnissen der Flüssigen Moderne. Politische Institutionen versuchen sich noch an der Kunst des Kompromisses, obwohl sie sich längst im Systemkampf befinden.
Interessanter Weise sind es gerade die traditionellen (Verfassungs-) Grundsätze, die dem politischen Establishment immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen. Kein allmächtiger Überwachungsstaat. Recht so?
„Im Prinzip ja“ würde die Radio-Eriwan-App antworten. Mit unserer Verfassung sind Regelungen ala Vorratsdatenspeicherung letztlich nicht zu vereinbaren. Sie deklassiert Bürger ohne Anlass zu Überwachungs-Objekten. Außerdem macht sie Berufsgeheimnisträgern die Arbeit nahezu unmöglich. „Informationelle Selbstbestimmung“ sieht anders aus.
Wenn wir den Blick von der Rechtsordnung des 20. Jahrhunderts auf die Verhältnisse des 21. Jahrhunderts wenden, dann deutet vieles allerdings darauf hin, dass die Entwicklung einer modernen vernetzten Gesellschaft genau diese Privatsphäre auflöst. Die Technologie, um die es im Digitalen geht, ist ein hochkomplexes, allgegenwärtiges Kontroll-Instrument. Ungehemmter Daten-Austausch ihre Funktions- und Entwicklungsgrundlage. Ab geht die Post-Privacy.
What can be Software, will be Software. Es geht bei der Frage der Verfügungsmacht über „unsere Daten“ also nicht mehr um das Ob, sondern „nur“ um das Wer. Mit aller Kraft ringen die alten Institutionen darum, das staatliche Gewaltmonopol ins Netz zu übertragen. „Neuland“ zurück erobern.
Jede Niederlage könnte dabei durchaus ein Sieg für die Zivilgesellschaft sein. Deren Kräfteverhältnisse sind aber zumindest mir noch nicht klar. Deshalb bleibt die entscheidende Frage weiter offen:
Wird die Gleichung „Internet minus Staat ist gleich herrschaftsfreier Raum“ wirklich aufgehen?
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