Die fetten Jahre sind vorbei. Jetzt kommen die goldenen. Wenn uns der Optimismus für das Digitalzeitalter auszugehen droht, dann hiflt immer ein Blick in die USA. Während hierzulande Sorgen vorherrschen, ruft der Wirtschaftsexperte Henry Blodget auf CNN das „Goldene Zeitalter des Journalismus“ aus. Seinen nachgeschobenen Blogpost zu lesen, lohnt sich, weil er den Aphorismus von Kurt Tucholsky bestätigt: „Alles ist richtig, auch das Gegenteil.“
Den Zeitungen mag es schlecht gehen, schreibt Blodget, Chef, des Online-Magazins Business Insider. Krisen seien immer schmerzhaft, aber dem Journalismus sei es nie besser gegangen als heute. Seine Perspektive ist dabei die des freien Unternehmers, der sich nicht an Risiken orientiert, sondern an Chancen. Auch wenn Tucholsky das vermutlich nicht so gut fände, will ich die knackigen Thesen in ein abwägendes „Sowohl als auch“ einbetten, quasi als Übersetzungshilfe aus dem Amerikanischen ins Skeptische.
„Die Welt ist wesentlich besser informiert als jemals zuvor.“ Wo alte Medieninstitutionen zusammenbrechen, werde dieser Verlust durch die Nachrichtenmenge auf Google, Facebook, Twitter und Wikileaks weit überkompensiert. Auf den ersten Blick eine zutreffende Aussage, auf den zweiten eine relativ nutzlose. Denn die ungeheure Menge von Informationen wird zum Problem eigener Ordnung. Was können die Menschen noch zur Kenntnis nehmen, wenn sie denn die technische Ausrüstung und den Internet-Zugang haben? Was ist neu? Was ist wahr?
„Heutzutage wird mehr großartiger Journalismus produziert als je zuvor.“ Dafür brauche man weder Druckerpresse noch einen Sender, so der Amerikaner. Und jedes Thema erhalte die Aufmerksamkeit, die es verdiene. Letzteres ist natürlich nur dann richtig, wenn man die Marktgesetze der Aufmerksamkeitsökonomie akzeptiert. In der Tat ist es leicht, online zu „publizieren“. Aber der Weg zu einem großen Publikum verläuft über die neuen Machtstrukturen, die Algorithmen der Suchmaschinen und die etablierten Netzwerke etwa.
„Die Schwierigkeiten der traditionellen Nachrichten-Branche sind übertrieben worden.“ Sicher, so Blodget, einige Print-Produkte seien pleite. Aber das Gesamtbild weise auf Gesundheit hin: Wachstum beim TV, vor allem aber im Online-Nachrichtengeschäft. Dies erscheint aus ökonomischer Sicht durchaus richtig. Nach wie vor wird mit Medien viel Geld verdient. Den Verlusten traditioneller Geschäftsmodelle, allen voran der Zeitung, stehen Gewinne an andere Stelle gegenüber, die dies mehr als wettmachen. Nur ist zumindest in Deutschland nicht absehbar, ob diese Verschiebung auch im Journalismus ankommt. Ihn muss man letztlich immer „querfinanzieren“, durch das Anzeigengeschäft beispielsweise.
„Digitale Nachrichtenorganisationen beschäftigen heute eine ganze Generation von talentierten Journalisten; und diese Organisationen werden jeden Tag besser, reichhaltiger und zukunftsträchtiger.“ Dem kann ich nicht widersprechen, vor allem weil ich auch den Eindruck habe, dass die gegenwärtige Journalisten/innen-Generation exzellent ausgebildet und vielversprechend ist. So war ich nicht drauf. Nur bleibt in Bezug auf Deutschland der Befund: Wer wird zu welchen Konditionen beschäftigt. Und nicht nur aus Eigeninteresse frage ich: Müssen oder sollten wir Älteren sofort aufhören, um nicht weiter im Wege zu stehen?
„Die Verbreitung von mobilen Gadgets ermöglicht den Nachrichtenkonsum überall 24 Stunden am Tag.“ Für die einen ein Vorteil, für die anderen ein Overkill. Erinnert mich ein bisschen an die Diskussion über die Ladenöffnungszeiten. Gut für den Kunden, belastend für die Angestellten.
„Der heutige Journalismus bietet die volle Breite an Formaten des Story-Tellings.“ Wer wollte da widersprechen? Um sie allerdings nutzen zu können, brauchen Journalisten nun auch ein viel umfassenderes technisches Verständnis und die entsprechende Ausrüstung. Nicht nur das Publikum hat im Digitalen Zeitalter die Qual der Wahl – die Autoren auch.
„Es gibt für Stories keine zeitlichen und räumlichen Grenzen mehr.“ Jede Geschichte könne jetzt so gemacht werden, wie sie es verdiene – sei es als Link oder als langer Text. Auch an dieser Stelle argumentiert Blodget wieder mit der reinen technischen Möglichkeit . Unabhängig davon, ob nun auch alle angemessen damit umgehen, bleibt der entscheidende Haken: Wie orientiert sich der Nutzer in dieser Ära von journalistischem Big Data?
„Es gibt keine Einschränkungen, was Platz oder Themen betrifft.“ Der Newsdesk eines Online-Angebots könne beides – breit und tief berichten. Siehe Punkt 7.
„Publikationen können jetzt den Vorteil verschiedener Vertriebswege nutzen.“ So mache man sich unabhängig von den „Gatekeepern“ frühere Tage. Hier setzt Blodget die vorherige Linie „Entdecke die Möglichkeiten“ fort und hält mit dem Internet die absolute Meinungsfreiheit für verwirklicht. Die Schleusenwärter – u.a. Journalisten – haben demnach ausgedient, weil die ganze Welt mit Informationen geflutet wurde. Und darin absäuft?
„Es gibt mehr Genauigkeit in den Medien und „Konsens-Wissen“ als je zuvor.“ Mal abgesehen von meiner holprigen Übersetzung: Es ist von der Möglichkeit der Kontrolle und Kommentierung jedweder Botschaft durch die Nutzer die Rede. Dies ist in der Tat richtig und einer der spannendsten Aspekte des Digitalen Wandels: das Aktive Publikum. Durch die neuen Tools erhalten Interessierte einen viel direkteren Einfluss auf die Öffentlichkeit. Klar ist aber auch, „Prosumer“ sind – weder nach Kompetenz noch nach Menge – eine repräsentative Gruppe. Sie können segensreich oder denunziatorisch wirken. Shit. Und wer kontrolliert die Kontrolleure?
„Es ist leichter denn je für talentierte, hoffnungsvolle Journalisten, in diesen Beruf einzusteigen.“ Willkommen im Zeitalter der Selbstvermarktung. Wer kann, der kann.
Ein Fazit am Ende? Nein. Nur noch eine Weisheit von Kurt Tucholsky, die auch in der neuen Online Bestand hat: „Dürfen darf man alles, man muss es nur können.“
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