Schreckliche Soufflé-Stories

Fürsorgliche Auslagerung

Fürsorgliche Auslagerung

Manchmal verpufft eine Story einfach, so wie gestern der Inhalt eines Rollkoffers bei Zirndorf. In unsicheren Zeiten steht zumindest eines fest: Angst-Soufflè-Stories haben Konjunktur. Wenige Stichworte genügen, um medialen Terror-Horror herauf zu beschwören: „Explosion“, „Erstaufnahme-Stelle“, „arabisch aussehende Männer“. Und dann fällt die Geschichte in sich zusammen. Aber es gibt ein Gegenmittel: Uns alle.

Die Stimmungslage der Nation scheint im Wandel: (Islamistische) Gewalt rückt näher ans eigene Sicherheitsgefühl, bis in die unmittelbare Nachbarschaft Auch in meine Nachbarschaft. Seit gestern gibt es den Hashtag „Weserpark Bremen“, der für regionalen Grusel sorgt, es  sogar zu etwas bundesweiter Beachtung gebracht hat.

Grund war der SEK-Einsatz im Einkaufszentrum „Weserpark“. Die Polizei fahndete nach einem möglicherweise gefährlichen Menschen. Der „Algerier“ war aus eine psychiatrischen Einrichtung im Umland geflohen und hatte dabei bedrohliche Worte ausgestoßen. Irgendwann später konnte er festgenommen werden (woanders). Inzwischen ist er wieder auf freiem Fuß. Keine Haftgründe.

Es wird lange dauern zu ermitteln, was den „Algerier“ umgetrieben hat. Laut Zeugenaussagen habe er Sympathien für die jüngsten Anschläge geäußert und angekündigt: „Ich sprenge Euch in die Luft!“.  Als „selbst- und fremdgefährdend“ wurde er eingeschätzt. Von Diebstählen ist ebenfalls die Rede. Ein Kranker, ein Krimineller, ein Missverständnis? Möglicherweise wird das nie aufgeklärt.

Jedenfalls haben die Behörden gestern auf eine vage Lage reagiert. Fürsorglich. Umfassend. Unaufgeregt. Soweit ich das mitbekommen habe. Auch die Berichte professioneller Medien versuchten den seriösen Grenzgang zwischen Fakt und Verdacht. Ob öffentlich-rechtlicher Rundfunk oder privates Print.

Klar, es gibt die fast schon üblichen Ausreißer: Im Video der Bild-Website werden die spärlichen offziellen Informationen weit ausgelegt: „Er soll der Terrorszene nahestehen.“ In meinem Kopf spielen sich bei solchen Formulierungen schon automatisch Bekenner-Videos ab.

Was einen Tag später  tatsächlich bleibt: Viel Konjunktiv, wenig Gewissheit. Aber manchen reicht das, weil es ihnen nicht um den Einzelfall geht, sondern um das allgemeine Deutungspotenzial. „Algerier“, „gefährlich“, „Drohung“, „Flucht“, „Polizei-Einsatz“.  Heißt dann gleich: „Ausländer raus!“ Beziehungsweise gar nicht erst rein.

Denn der öffentliche Diskussions-Raum ist größer geworden. Dabei quillt er über vor Angeboten zum Aufregen. So sorgt der Bremer Vorfall im Netz durchaus für Stimmung. Wer ein bisschen googelt, landet auf recht aufwändigen Onlineportalen wie „Politikstube“, ein Medium für die kleine Hetze zwischendurch:

Deuschland ist anscheinend zu einem Freigehege für Psychos geworden?

Man beachte das Fragezeichen am Ende.

Pauschale Verdächtigungen gehen natürlich auch kürzer. Dafür gibt es dann Twitter (unter anderem):

 


Natürlich müssen wir weiter kritisch fragen, ob Behörden verhältnismäßig und die „Mainstream-Medien“ unter Zeitdruck sauber arbeiten. Ob sie Dinge übertreiben oder ignorieren. Nur nicht verrückt machen lassen, nicht einmal von Verrückten aller Art.

Gleichzeitig kommen wir aber keine Sekunde länger ohne Publikumsverantwortung aus, wenn wir die wachsende Gewalt-Kommunikation eindämmen wollen. Wir brauchen eine „Ausweitung der publizistischen Verantwortungszone“, wie der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen es gerade benannt hat.

Denn die freie Auswahl an „Informationen“, die erweiterten Möglichkeiten des sozialmedialen Wertens und Teilens sollten auch uns Nutzer dazu verpflichten, bewusst damit umzugehen. Jede/n Einzelne/n !!!!!!!! (Um Satzzeichen mal für etwas Sinnvolles zu vergeuden.)

Pädagogischer formuliert: Umfassende „Medienkompetenz“ ist notwendig, auch als Schulfach. Für mich sogar ein Pflichtfach. Dahinter steckt ein Stück Arbeit, Umdenken und Einlenken. Aber sie lohnt sich, ja ist unumgänglich, gerade weil die Macht der bisherigen Medien schwindet und wir mittlerweile in einer „postredaktionellen Gesellschaft“, wie der Medienethiker Alexander Filipovic es formuliert.

Dass das Rennen um die öffentliche Meinungsbildung noch keineswegs gelaufen ist, zeigen viele Debattenbeiträge dieser Tage.

Nachdenken, differenzieren, einordnen – das ist ja in der Tat nicht das Pivileg von wenigen Eliten oder Etablierten. Sondern unser aller Fähigkeit und Pflicht.

UPDATE 29.07.2016: Nur um zu zeigen, wie es so zugeht in der Gerüchte-Backstube. Derzeitiger offizieller Erkenntnisstand: Der „Algerier“ war wohl nur für einen „Afghanen“ gehalten worden, der sich im Weserpark verdächtigt gemacht haben soll. Und eine Gefahr gab es laut Polizei auch nicht.

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