Gute Quote, schlechte Quote. Der Auftritt des neuen Dienstes Blendle und der Abgang des alten ZDF-Mannes Wolfgang Herles zu Beginn dieser Woche, das sind zwei mögliche Antworten auf die Zukunftsfrage des Journalismus: Wie versorgen Medien am besten ihr Publikum?
Ich knote hier diese unterschiedlichen Vorgänge – ein innovatives Inhalte-Angebot und ein frisches medienkritisches Buch – zusammen, um beide Extrem-Positionen zu beschreiben: Öffentlichkeit einmal top down und dann wieder bottom up betrachtet.
Herles: Bis es Euch gefällt
Wenn pensionierte Journalisten am Ende der Dienstzeit einpacken, packen sie auch gern mal aus: Größen einer Generation gehen gern mahnend von der Bühne ab: Indem sie an das glänzende Einst erinnern und das eklige Jetzt geißeln. Früher war eben mehr Lametta. Soweit das Lamento. Ist ja was dran, sage ich mir manchmal.
Christoph Maria Fröhder kritisierte vor einiger Zeit die „Strukturagenten“ im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Das kann ich verstehen, war ich doch selbst einer. Ein Rädchen in jener komplizierten Interessensausgleichs-Maschinerie, die man als Autor/in gern mal zum Teufel wünscht. Solange die Honorar- und Lizenz-Abteilung rechtzeitig überweist, versteht sich. A bisserl Struktur darf schon sein.
Auch Wolfgang Herles kommt in seinem Buch „Die Gefallsüchtigen“ zu wenig schmeichelhaften Befunden fürs System. Das Werk wird hier vom Medienjournalisten Bülend Ürük beschrieben. Gelesen habe ich es noch nicht, aber einige Rezensionen. Und diese Zusammenfassung des Zustands der Öffentlich-Rechtlichen:
Moralismus und Alarmismus statt kritischem Qualitätsjournalismus, statt Aufklärung und Bildung nur Fußball und Krimis. Ihre Aufgabe, »vierte Gewalt« in unserem demokratischen Gemeinwesen zu sein, verfehlen die Gebührensender dramatisch. Und das am Beginn des digitalen Zeitalters, wo sie so wertvoll sein könnten wie nie.
Dieser Werbetext des Verlages ist natürlich Moralismus und Alarmismus pur, in seinen undifferenzierten Formulierungen, die von vornherein genau jenen Raum für offene Diskussionen verstellen, den sie zu fordern vorgeben. Verkaufsquoten-orientiert, könnte man sagen.
Aber damit würde man Herles nicht gerecht. Er hat sicher treffende Beispiele und es lässt sich kaum bestreiten, dass Graf Zahl inzwischen sein Einflussgebiet bei den Sendern noch stärker ausgebaut hat. Nie war der Kostendruck stärker und nie war der Quotendruck dort höher als heute. Toll ist das nicht.
Vielleicht bin ich ebenfalls ein „Quoten-Idiot“, wenn ich einräume, oft ziemlich genau auf die Ergebnisse von Medienforschung geachtet zu haben. In einem Blog-Post habe ich vor einiger Zeit einmal eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema versucht.
Mindestens in einem Punkt gebe ich Herles recht: In seiner Kritik an der Quote als absolutem Ziel. Als Selbstzweck. Wer nur nach Ratings geht, verhält sich wie ein Autofahrer, der allein mit dem Gaspedal steuern möchte. Schiefes Bild Ende.
Nur ist dieser Umstand das Resultat von Entwicklungen, die die Altvorderen oft übersehen. Unter anderem hat die vierte Gewalt Nachwuchs bekommen. Man könnte sogar sagen: Konkurrenz – nämlich die mittlerweile fünfte Gewalt. Nennen wir es mal „Aktiviertes Publikum“. Öffentlichkeit, die hohe Ansprüche stellt und die Wahl haben will.
Dabei nimmt sie aber nicht automatisch „werthaltige“ Angebote zur Kenntnis. Sonst müssten die Quoten von ARTE, 3Sat, Phoenix und Konsorten ja durch die Decke gehen. Sind sie doch nur einen Knopfdruck von den viel gescholtenen Mainstream-Massenprogrammen entfernt. Nein, so ganz einfach können selbst Leitmedien die Aufmerksamkeit des Publikums nicht mehr regulieren.
Blendle: Wie es Euch gefällt
Blendle geht die Frage des Vertriebs relevanter Inhalte anders an: Durch die Einführung dieses Cherry-Picking-Portals können Nutzer Artikel hochwertiger Print-Marken ziemlich simpel einzeln online zu erwerben. Mir erscheinen die ersten Reaktionen (etwa hier, hier und hier) im Netz wohlwollend. Viele sehen in dem Dienst ein Modell, bei dem sich das Bereitstellen guter journalistischer Inhalte auch im Netz lohnt.
Denn in unserer zunehmend „granularen“ Gesellschaft wollen viele Menschen individuell mit Inhalt angesteuert werden. Eine nahezu herrschaftsfreie Informations- und Diskursmöglichkeit, könnte man meinen.
Nur: Wenn sich derartige Geschäftsmodelle in den Medien durchsetzen würden, hieße das aber auch: Erlauben können sich Medien nur noch, was gefällt. Nennen wir es einmal „Quote4.0“. Es zählt, was zählt.
Sich den volatilen Kurven eines solchen Aufmerksamkeitsmarktes auszusetzen, das erfordert von Verlagen starke Nerven und ausreichendes Venture-Kapital. Das Risiko tragen die Inhalte-Anbieter. Während die Plattformen wie Blendle einmal mehr einen digitalen Mehrwert abschöpfen.
So eine Markbereinigung muss nichts Schlechtes sein. Denn sie könnte durchaus zu mehr qualitativem Wettbewerb im Journalismus führen. Unter den vielen Ansätzen zu dessen Finanzierung ist Blendle einer der spannenderen. Alle und alles wird das Modell natürlich nicht retten können. Für Lokales und für Spezielles könnte es eng werden.
Relevanz: Gedanken und Gefühle
Blendle fragt, was das Publikum will und Herles sagt, was es wollen soll. Beide nähern sich auf unterschiedlichen Wegen dem Schlüsselbegriff der Relevanz. Während der Online-Kiosk auf das Interessensmanagement der Nutzer vertraut, kritisieret der EX-ZDF-Journalist das Beziehungsmanagement der Medien. Vor allem das Zuviel an Gefühl.
Am Wochenende hatte sich Herles am Wochenende auf dem Blog Tichy´s Einblick kurz vor den rollenden Empathie-Zug beim Flüchtlingsthema geworfen: „Willkommenskulturweltmeister“ wolle Medien-Mainstream-Deutschland werden, betäubt von Mutti Merkel. Statt harte Debatten zu führen wie weiland Opas Franz-Josef Strauß es vorgemacht habe.
Herles kritisiert die vielen „Bekenntnis-Shows“. Gemeint sind wohl Aktionen wie dieser Appell des NDR:
.@stfries @MedienHansen wie wärs mit dem: pic.twitter.com/Y1AqOUkmkZ
— Roland Tichy (@RolandTichy) September 12, 2015
Statt das Publikum engagiert einzulullen, sollten Journalisten/innen doch lieber der Frage nachgehen: „Und was kommt nach dem Rausch?“ Damit bringt er allerdings die alte Ambivalenz zwischen engagierter und neutraler Journalistenrolle auf den Punkt. Fragt sich nur, wer diesen Zielkonflikt regulieren soll: Publikum oder Presse?
Blendle verspricht die Emanzipation des Lesers und Herles fordert das Ende der Gefallsucht. Zwei extreme Positionen zur Herstellung demokratischer Öffentlichkeit: Im einen Fall per Messwert, im anderen durch Anmaßung.
Meine Wischiwaschi-Prognose: Statt einer einheitlichen Bestimmung von „Relevanz“ von oben oder von unten, wird es beim widersprüchlichen Mischmasch bleiben. Weder kann die Atomisierung von journalistischen Inhalten per Klick der Weisheit letzter Schluss sein. Noch die Wiederauferstehung von Herbert Wehner als Tagesthemen-Kommentator.
Aber wie sagt Angela Merkel: Wir kriegen das schon hin. Irgendwie.
UPDATE 16.09.2015: Für Diskussions-Gourmets hätte ich hier noch zwei interessante Links zum Thema „Blendle“: Rolf Heimann sieht das Angebot positiv, weil es den „Präsentkorb“-Zwang der Zeitungen aushebelt. Wolfgang Michal argwöhnt hingegen eine „Kaffeepadisierung des Journalismus“.
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