Haben die Medien ihren publizistischen Auftrag ernst genommen, als es darauf ankam? Der Wissenschaftler Michael Haller wollte das mit der Studie „Die Flüchtlingskrise in den Medien“ klären. Sein Befund klingt echt krank: „gravierende Dysfunktion als Teil der sogenannten Mainstreammedien“. Oha.
Damit nicht genug – ergänzend stellt die Untersuchung, nach umfangreicher Inhaltsanalyse von „Leitmedien“ und Regionalzeitungen, noch ein bedeutendes Wahrnehmungsproblem fest:
Diese Störungen haben sich so tief eingefressen, dass sie von Journalisten oder einzelnen Redaktionen vermutlich für normal gehalten, das heißt nicht als solche wahrgenommen oder gar problematisiert werden.
Tatsächlich: Wie schwierig es zu sein scheint, eine solche Diagonose richtig ins Bewußtsein der Betroffenen zu rücken, zeigt bereits die Meta-Diskussion um die Veröffentlichung. Dr. Haller ärgert sich über die Vorabmeldung in der ZEIT :
Studie der Otto Brenner Stiftung: Medien haben in der Flüchtlingskrise versagt.
„Boulevardesk“ findet der Forscher solche Zuspitzungen. Diese Stilkritik verwundert wiederum. Zum einen weil der Haller als ehemaliger Journalist seinen langjährigen Arbeitgeber sowie die branchenübliche Eigen-PR eigentlich kennen sollte. Zum anderen aber kritisiert er ja tatsächlich ziemlich hart und ziemlich pauschal.
Vermutlich liegt das Problem eher in der Sorge um die Wirkung. Dass ihr Untersuchungsergebnis – zu Recht – breit diskutiert und kontrovers werden wird, sollte Wissenschaftler ja eigentlich weder schrecken noch betrüben. Was aber Michael Haller offensichtlich Sorgen bereitet, ist Beifall von der falschen Seite. Dass man seine Arbeit als Futter für die Lügenpresse-Schimpfkanonaden sehen könnte. Tun einige auch.
Kritik an den Medien musste immer schon mit dem Vorwurf von Nestbeschmutzung (intern) und Praxisferne (extern) leben. Auf diesem vielfach verminten Gelände wagen Haller und sein Team noch einen zusätzlich heiklen Grenzgang: Journalismusforschung auf dem schmalen Grat zwischen systematischer Kritik am Mediensystem und einer Abrechnung mit den Systemmedien.
Da muss Forscher Haller jetzt wohl durch. Denn diesen Weg hat er selbst eingeschlagen, insbesondere indem er den Ausdruck „Mainstreammedien“ verwendet, leicht distanziert als „sogenannte Mainstreammedien“. Dieses Begriffskonzept soll nach dem Plan des Leipziger Medienwissenschaftlers Uwe Krüger eigentlich den Lügenpresse-Vorwurf auf eine Argumentationstemperatur herunterkühlen, aber selbst im qualifizieten Mediendiskurs wird es nach meinem Eindruck doch überweigend als Kampfvokabel genutzt. Und zwar abwertend.
Mit den diskursiven Folgen einer solchen Studie – beispielsweise der erwähnte „Beifall von der falschen Seite“ – müssen die Beteiligten also leben. Selbst wenn Haller betont, keine kausalen Schuldzuweisungen zu treffen, sondern den Prozess-Charaker von Kommunikation zu sehen, zumal „die dem Denken innewohnende Trennung von Henne und Ei ins Nirgendwo führt“, wie er schreibt – angekommen ist er doch bei einer Entweder-Oder-Kategorisierung. Funktion oder Dysfunktion.
Hauptsächlich liegt das an der normativen Haltung zur Aufgabe der Medien, die Haller offen einnimmt. Für ihn ist ein neutrales Rollenverständnis des Informations-Journalismus sowohl möglich als auch zwingend geboten: Berichten, nicht belehren. Und zwar für das allgemeine Publikum, nicht für die geschätzten Kollegen oder die bewunderten Eliten. Seine in die Medien gesetzten Erwartungen will er in der Realtität der Flüchtlingsdebatte nachmessen.
Dabei muss er empirisch den gesicherten Boden der Repräsentativität ein Stück weit verlassen und theoretisch auf Konstrukte zurückgreifen, die bei einer Kritik an den propagandistischen Eigenschaffen der Massenmedien anknüpfen: Agenda Setting, Indexing, Framing, Schweigespirale, Reaktanz. Eine fundierte Sicht, aber nicht die einzig mögliche, vor allem keine „objektive“.
So kommt dann bei der Studie „Die Flüchtlingskrise in den Medien“ am Ende doch irgendwie heraus, was bereits vorne hineingelegt wurde. Ich fasse zusammen:
Statt auftragsgemäß die vielfältigen Positionen zum Thema zu integrieren, hätten die „Leitmedien“ Welt, FAZ und Süddeutsche Zeitung ebenso wie BILD und viele Regionalblätter die Gesellschaft 2015/2016 weiter polarisiert. Dabei agierten sie in der Nähe und im Sinne der gesellschaftlichen Eliten, nicht des allgemeinen Publikums.
„Versagen“ war für dieses Urteil tatsächlich eine zulässige Zuspitzung…
Haller und sein Team konnten gleichwohl einigen Stoff für die Diskussion zum Thema „Vertrauen in die Medien“ zusammentragen. Die Karriere des Begriffes „Willkommenskultur“ wird nachgezeichnet und quasi als Erziehungsauftrag topdown beschrieben.
Andererseits räumt Haller an manchen Stellen die Grenzen seiner Möglichkeiten offen ein:
Fungierte die Berichterstattung der Lokal-/ Regionalpresse rund um das Narrativ Willkommenskultur tatsächlich als Podium für die Politiker, die mit ihrer Sicht der Dinge die „herrschende Meinung“ prägten? Die referierten Häufigkeiten können dies natürlich nicht belegen; man kann sie aber als Indikatoren lesen, die diese These stützen.
Die Studie bietet eine Reihe von weiteren „Indikatoren“ an, die ein Nachdenken lohnen. Beispielsweise die Erkenntnis, dass relativ selten Experten und Betroffene als „relevante“ Sprecher zu Wort kommen. Überhaupt haben Haller und Team in ihrem Material wenig „dialogischen“ Austausch unter Akteuren wahrgenommen.
Auf der anderen Seite bleibt dem Leser eben doch noch viel Raum für alternative Interpretationen: Wie sähen die Studien-Ergebnisse aus, wenn Fernsehen und Radio einbezogen worden wären? Das Zusammenspiel mit den sozialen Medien? Oder der redaktionellen Kontext der untersuchten Berichte?
Ganz zu schweigen von der Frage nach der Wirkung beim Publikum. Kommunikation ist schließlich, was ankommt. Können Medien tatsächlich so effektiv an der Schweigespirale drehen, dass beim unterdrückten (Wut-) Bürger eine Reaktanz ensteht, also beim Thema Flucht: die (un-) heimliche Lust am verbotenen Rechtsextremismus?
Dennoch: Es bleibt ein Verdienst der Forschungsarbeit von Haller, schwer Fassbares begreifbarer zu machen. Seit ich selbst den Wechsel von der operativen zur beobachtenden und beratenden Perspektive vollzogen habe, interessiert mich das jedenfalls brennend: Inwieweit werden Massenmedien noch ihrer Funktion gerecht, die Gesellschaft in ein konstruktives Selbstgespräch zu verwickeln?
Hierzu erfahre ich in Hallers Untersuchung vieles. Eine eindeutige Antwort kann es dagegen gar nicht geben. Zu komplex, zu paradox, zu ambivalent ist dazu der digitale Medienwandel. Auf einer Meta-Ebene wird die OBS-Studie selbst wiederum Teil polarisierender Debatten, ob ihr Autor das nun will oder nicht. Denn natürlich wird sein Befund bald auch zur Grundversorgung medialer Verschwörungstheoretiker gehören.
Statt Deutungshoheit ist selbst für Forscher heutzutage höchsten Andeutungs-Hoheit zu haben. Das muss erstmal reichen.
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