Wir leben in einer Behauptungskultur
Den Gegenstand der Diskussion habe ich leider vergessen. Diesen einen Satz aber nicht: „Wir leben in einer Behauptungskultur.“ Leicht resigniert hatte ein Kollege ihn seinem Argument vorangestellt. Die Sitzung ist zwar länger her, aber das Wort „Behauptungskultur“ beschreibt unsere (Medien-) Welt besser denn je. Ist das schlimm? Vielleicht noch nicht.
Cyber-Historiker werden diese Phase der Geschichte möglicherweise einmal „das Zeitalter der Selbstbehauptung“ nennen. Gerungen wird immer heftiger, insbesondere auf einem Schlachtfeld namens Öffentlichkeit. Hier kämpft das eigene Ich mit den anderen Egos, den wirklichen und den künstlichen. Um Aufmerksamkeit. Weil die Themen immer komplizierter und die Reaktionszeit immer geringer werden, greift das Selbst zu einer Art Vorneverteidigung, zur Behauptung eben.
In diesem Beitrag geht es ausdrücklich nicht darum, den Untergang der Diskussionskultur zu beschreien. Ideal war die nie und wer weiß, wie sie mal werden wird. Vielmehr will ich beschreiben, welche Funktion die Behauptung für unser gegenwärtiges mediales Miteinander erfüllt: Sie legt die unendliche Vielfalt von Positionen offen. So werden die enormen Widersprüche der Gegenwart über-deutlich.
Weil wir weder genug Zeit fürs Ausdiskutieren noch ausreichend Verfahren zur Entscheidungsfindung haben, bleiben die Positionen im Raum oft einfach nebeneinander stehen. Das macht sie zunächst erträglich. Allerdings nur für einen Übergangszeitraum, für eine Weile, bis wir wieder Vertrauen und Verbindlichkeit untereinander entwickelt haben, um die großen – und kleinen – Fragen der Zeit zu lösen.
So sieht jedenfalls die positive Perspektive („Vertrauen 2.0“) aus. Wenn es dagegen schief läuft, steigert sich das Nebeneinander weiter zur Polarisierung, zu Konflikten, zur Gewalt.
Das wäre echt schlecht.
Behauptung ist ein doppeldeutiger Begriff
Unter Behauptungskultur verstehe ich zweierlei: Etwas inhaltlich zu behaupten und (damit) sich selbst persönlich zu behaupten. In dieser komplexen Welt macht man es sich als Einzelkämpfer/in mit Behauptungen einfacher. Oft ist dies sogar für alle Beteiligten einer Diskussion ein attraktiver Modus, denn so muss sich letztlich keiner von seiner Position weg bewegen. „We agree to disagree.“
Wie bei so vielen Beobachtungen aus der digitalen Medienwelt zeigt sich auch hier, dass das Phänomen an sich nicht neu ist, seine Dimension dagegen schon. Inzwischen steht der Cyberspace voller digitaler Stammtische. Platz genug für alle. Mehrfach. Mal sind wir Gäste, mal Gastgeber. Es herrscht permanente Eingabe-Anforderung, manchmal: Eingabe-Überforderung.
Beispiele gibt es ohne Ende
So weit, so abstrakt. Selbst auf dem Unterfeld der Medien bietet sich eine Fülle von spannenden, erfreulichen oder verstörenden Thesen. Unendliche Diskurs-Angebote.
– „Kein Mensch wird künftig mehr Zeitung auf Papier lesen.“
– „Natürlich würde ich für Inhalte im Netz zahlen, aber man lässt mich nicht.“
– „Öffentlich-rechtliche Sender erfüllen ihren Programmauftrag nicht mehr.“
– „Medienmanager haben den digitalen Wandel verschlafen.“
– „Journalistische Selbstvermarktung führt in die Selbstausbeutung.“
– „Die publizistischen Gatekeeper verlieren ihre Macht an das Publikum.“
– „Über die wahren Hintergründe des Palästina-Konfliktes wird ja nicht berichtet.“
– „Google ist gut“
– „Google ist schlecht.“
Mit dieser Zusammenstellung wollte ich nur ein halbwegs neutrales, auf keinen Fall aber ein vollständiges Spektrum offerieren. Allen Beispielen gemeinsam sind der allgemeine Deutungsanspruch sowie jeweils ein durchaus plausibler Kern. Vor allem aber die Unmöglichkeit, diese Thesen wirklich umfassend zu begründen. Sie sind zu gewaltig. Was bleibt, ist meist nur die Behauptung.
Ich möchte nicht jeden klaren Debattenbeitrag zur unbegründeten Behauptung herabstufen. Auch heutzutage werden Thesen durchaus argumentiert, vielleicht sogar oft besser denn je, mit vielerlei Referenzen. Nur: Woher die Zeit nehmen, miteinander in die Tiefe zu gehen und wie dann das Ergebnis vereinbaren?
Das lässt sich derzeit gut beobachten, wenn wir uns die hitzigen Debatten über die Krisen und Kriege der Gegenwart ansehen. Ob nun privat oder professionell – mit einem Mal finden sich die Diskutanten in einer digital vervielfältigten Öffentlichkeit wieder. Gaza, Ukraine, Syrien oder Libyen – wir haben immer mehr Konflikte auf dem Schirm. Und immer dichter. Es wird Partei ergriffen, gelinkt und geliked, was das Touchpad hergibt. Allerdings geraten nicht wenige auf den Abweg zum Propagandakriegs-Pfad.
Sobald die Schlachten fürs Erste geschlagen sind, werden denn auch die virtuellen Wunden geleckt. Wie beispielsweise in diesem Blogeintrag von Martin Lindner. Nachdem er sich aus akademischer Distanz in die israelisch-palästinensische Auseinandersetzung eingemischt hatte, musste er einiges einstecken. Nun sah er sich zu einer „Offenlegung“ seiner Position und einem Appell zur besseren Diskussionskultur genötigt. Kein seltener Vorgang.
Wir bewerten zu viel und zu schnell
Dass Freund-Feind-Schemata so schnell greifen, führe ich auf einen Grundreflex gegenwärtiger (digitaler) Diskussionskultur zurück: Voreiliges Bewerten. Also Ranken, Raten und Ranten. Kein Wunder, denn die binäre Logik unserer Zeit fordert uns sekündlich ein Ja oder ein Nein ab. Alles andere kann übel werden. Schließlich stehen dauernd Entscheidungen in Echtzeit an, nicht irgendwann nach reiflicher Überlegung oder gar Diskussion. Keine Atempause, (Medien-) Geschichte wird gemacht.
Das Problem dabei: Die Positionen prallen oft ungebremst aufeinander. Debatten eskalieren, aber sie führen zu nichts: „Die einen sagen so, die anderen sagen so. Nächstes Thema.“ Eine derart schlichte Addition von Positionen ergibt noch lange keine Diskussion. So wie das einfache Nebeneinander von Personen nicht automatisch Gemeinschaft erzeugt. Allenfalls Lager der Selbst-Vergewisserung, „Salon-Öffentlichkeiten“ der Einigen und ähnliches. Agree to disagree.
Um es auch einmal positiv zu wenden: Digital vervielfältigte Debatten-Kultur bricht zunächst einmal verkrustete Strukturen auf und legt uns dabei die Konflikte der Gegenwart offen. Auf der anderen Seite wird Polarisierung begünstigt. Dies wiederum schafft nahezu ideale Voraussetzungen für Religionskriege, wörtlich und im übertragenen Sinne.
Je länger ich etwa den Debatten über den digitalen Medienwandel folge, desto mehr Glaubenseifer entdecke ich. Egal, was verhandelt wird, nach zwei, drei Kommentaren sind die Rollen verteilt: Heilige oder Teufel, Checker oder Vollpfosten. Die Diskutanten werfen sich in unendlichen Varianten vor, entweder die wunderbaren Chancen des Internets nicht verstanden zu haben oder aber deren schauerlichen Risiken auszublenden. Das war es dann auch.
Drehen an der Schweigespirale
Ein kleiner Blick ins Detail: Der Blogger Thomas Knüwer, ein ebenso kompetenter wie meinungsstarker Geselle, hat dieser Tage einen interessanten Querpass zur Soziologie gespielt. „Pluralistische Ignoranz“ sieht er am Werk, wenn Mehrheiten im Publikum sich für Minderheiten halten, weil das Medienbild zu einem Thema dessen öffentliche Wahrnehmung so sehr verzerrt. Ein ebenso bemerkenswerter wie wuchtiger Befund: Die Gesellschaft versteht sich selbst nicht mehr. Sie blickt in ihr verfälschtes Abbild. Die wahren Verhältnisse werden ignoriert. Das wäre dann eine Behauptungs-Unkultur.
Kommunikationswissenschaftlich würde hier vermutlich der Begriff der „Schweigespirale“ besser passen. Dann zeigt sich auch, dass die Diagnose nicht neu ist. In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts entstand zum Beispiel der Verdacht, die linksliberalen Medien bremsten den CDU-Kandidaten Helmut Kohl bei Wahlen aus. Die Vorstellung von einer angeblich schweigenden Mehrheit hat so auch einen Beiklang von Verschwörungstheorie.
Knüwer wäre jetzt nicht Knüwer, wenn er nicht gleich die Ursache für den Missstand verorten würde, nämlich bei den digital uninspirierten etablierten Medien und Alt-Journalisten. Allerdings vernebeln genau solche flinken, vereinfachenden Schuldzuweisungen an „die Medien“, „die Verleger“ oder „die Politiker“, kombiniert mit Heilserwartungen an „das Netz“, den Blick.
Anspruch und Wirklichkeit liegen im Dauer-Clinch
Besser beraten sind wir, wenn wir die Fragestellung einfach aufgreifen, ohne sie gleich im Paket mit der Antwort zu erwerben. Also: Wie kann eine Gesellschaft, wie können ihre Mitglieder unter den unsicheren Bedingungen der Flüssigen Moderne ein vernünftiges Selbstgespräch führen? Wie lautet der Anspruch und wie sieht die Wirklichkeit aus?
Widersprüchlich: Einerseits verfügen wir über immer mehr Kommunikations- und Beteiligungsmöglichkeiten. Andererseits verhindert derzeit die Explosion des Potenzials seine konstruktive Nutzung. Diese strukturelle Überforderung bedeutet weder einen Weltuntergang noch lässt sie sich allerdings mit einem schicken Tool und etwas Schulung erledigen. Wir werden diesen Widerspruch wohl noch eine Weile aushalten müssen.
Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Mit dem großen digitalen Versprechen der Teilhabe aller an allem sinkt gleichzeitig die Neigung, sich noch von irgendwem etwas sagen zu lassen. Vor allem nicht von medialen „Gatekeepern“ oder politischen Institutionen „alter Schule“. Dadurch wird allerdings immer unklarer, wie wir in gesellschaftlich wichtigen Fragen noch Verbindlichkeit herstellen wollen.
Es ist nämlich erheblich einfacher, technische Erfindungen zu machen oder Geschäftsmodelle zu ersinnen als einen Konsens darüber herzustellen, wie eine globale digitalisierte und ökonomisierte Welt friedlich funktionieren kann. Gesucht wird nicht weniger als der dritte Weg zwischen Stillstand und Faustrecht. Der ist recht verschlungen, erfordert Einschränkungen, gelegentlich sogar Verzicht.
Sowie einen kritischen Blick auf die Machtverhältnisse der Infrastruktur. Wer bestimmt eigentlich im Netz? Ersticken wir es mit Regulierungen? Oder haben wir zu wenig davon? Wie weit sind alternative Strukturen gediehen und können wir ihnen vertrauen? Was für große Fragen!
Behauptungskultur ist eine Brückentechnologie
Unter den Möglichkeiten, schwierige Fragestellungen zu vereinfachen, um sie irgendwie in den Griff zu bekommen, stellt die Behauptungskultur einen vielleicht notwendigen Kompromiss dar. Sinnvoll, solange das Vertrauen in erneuerte und neue gesellschaftliche Institutionen fehlt, solange wir also kein neues „Vertrauen 2.0“ entwickelt haben. Und solange Behauptungen dabei helfen, Gewalt und Chaos zu verhindern.
Auf nachhaltige Sicht besteht allerding die Gefahr, dass sich Behauptungen abnutzen, aushöhlen. Sätze nach dem Muster „Die Renten sind sicher“ oder „Der Euro ist stabil“ können durchaus eine Zeitlang Panik bekämpfen. Wir lösen die Probleme nicht, sondern geben uns alle zunächst damit zufrieden, sie für lösbar zu erklären.
So werden weiterhin rhetorisch rote Linien gezogen, Sanktionen angedroht, Verhandlungen in Aussicht gestellt. Ganz viel „Transparenz“ wird ohnehin versprochen. Näheres in der Tagesschau. Bis zum Beweis des Gegenteils, den natürlich niemand erbringen kann.
Ein Sascha Lobo würde so etwas vielleicht als Brückentechnologie bezeichnen. In einem hoch spannenden Buch über Sinn und Krise der Demokratie heute nennt der Politologe Ingolfur Blühdorn den Umgang mit den Paradoxien der Flüssigen Moderne „Simulative Politik“.
In der Perspektive brauchen wir Analysen
Auf Dauer können wir uns jedoch kaum mit einer Behauptungskultur durchmogeln, wenn es um existenzielle Entscheidungen geht: Frieden, Umweltschutz, Ernährung, Verteilungsgerechtigkeit. Und auch im Journalismus geht es vielen nicht schnell, vor allem nicht innovativ genug voran. Vor allem der nachrückenden Generation, die sich gerade in alle möglichen Experimente stürzt. Beziehungsweise hinein gestürzt wird.
Immerhin: Mancherorts bilden sich bereits neue Autoritäten heraus, wie das Investigative Portal The Intercept um den Enthüller Glenn Greenwald. Zivilgesellschaftliche Netzwerke beginnen sich zu fügen. Mühsam, aber erkennbar rücken zudem digitale Themen in das Bewusstsein breiterer Gesellschaftsschichten.
Insgesamt aber wissen wir immer noch nicht genug über Meinungsmacht und Ohnmacht in der Flüssigen Moderne. Insofern unterstütze ich den Appell mancher Blogger wie Gunnar Sohn nach (noch) mehr Forschung. Wir brauchen sicher eine Wissenschaft, die zunächst ganz nüchtern Fragen stellt und infrage stellt. Und so vielleicht die Gesellschaft wieder besser ins Gespräch bringen hilft.
Bis zu den Antworten werden wir allerdings weiter auf Behauptungen angewiesen sein.
Wunderbar geschriebener Artikel, der zum Nachdenken anregt.