Masse macht Öffentlichkeit

Journalist und Publikum (Quelle ZAPP /NDR)

Journalist und Publikum (Quelle ZAPP /NDR)

In der Medienbranche dürften Zukunftstagungen als krisensicheres Geschäftsmodell durchgehen. Gerade in der Kommunikationswelt müssen wir ja reden. Das allgemeine Publikum ist stets virtuell dabei, wird immer intensiver als Partner auf Augenhöhe beschworen – und doch in großen Teilen übersehen.

Nehmen wir die Tagung „Digitaler Journalismus: Disruptive Praxis eines neuen Paradigmas“, vergangene Woche organisiert vom Team des Rudolf Augstein-Stiftungsprofessors Volker Lilienthal (Universität Hamburg). Der mit weitem Abstand sprödeste Titel aus dem aktuellen Angebot an WasmitMedien-Events. Meine freie Übersetzung: „Medienwandel – uijuijui…“

Gleichwohl, diese Zusammenkunft von Vordenkern und Vormachern war gut investierte Aufmerksamkeit. Zumindest kann ich das für den ersten Tag sagen, den ich live im Tagungs-Teehaus erlebt habe. (Wenn ich den Twitter – Hashtag über den Folgetag richtig lese, ging es da schwungvoll weiter.)

Weil ich mir derlei Veranstaltungen so selten leiste, nehme ich mir jetzt den Raum für drei ausführliche Reflexe. Sie entsprechen meinen beruflichen Blickwinkeln.

Das Fazit (als „tl;dr“ -Ersatz) vorweg:

1. Als ehemaliger Mitverantwortlicher für Change Management kann ich mit der optimistischen Ratlosigkeit zum Digitalen Wandel leben, die es in Hamburg gelegentlich zu besichtigen gab.
2. Aus der wissenschaftlichen Beobachterposition nehme ich froh und inspiriert den Stand der Medien-Forschungsdinge zur Kenntnis, insbesondere was den Nachwuchs betrifft.
3. Der in Mainstream-Medien altsozialisierte Regionaljournalist in mir staunt: Ein ziemlich bedeutender Teil des Publikums ist den Zukunftslenkern aus dem Blick geraten: die Mehrheit.

Diese Thesen entstanden im Lichte folgender Erlebnisse:

Leuchtet ein: Differenzierte Keynote

Erhellend fand ich erst mal, dass selbst Keynote-Sprecher dem verschärften Thesendruck standhalten und ein bisschen Differenzierung wagen können. „In schwerer See“ sei der Journalismus zwar, aber sein Untergang keineswegs absehbar. Eher gelte es, auf Tendenzen zu achten, die sich mehr auf den kreativen als auf den zerstörerischen Aspekt der Disruption beziehen.

Christian Jakubetz gab den Glaskugel-Effekt zu und stellte außerdem fest, dass Innovation kein Selbstzweck sei. Wenngleich der Druck hier hoch bliebe. Derzeit wäre das Aufbauen von loyalen Communities wichtig. Nutzer neu binden. Klar soweit.

Blitzt auf: Wacher Forschungsgeist

Als Highlight habe ich die Poster-Pitches empfunden: Junge Forscherinnen und Forscher präsentierten in Hamburg Projekte zu Grundsatz Themen wie „Vertrauen“ (Katharine M. Grosser, Valerie Hase / Universität Münster), gaben  spannende Einblicken zur Twitter-Nutzung von Auslandskorrespondenten (Marieluise Denecke / TU Dortmund) oder zu hochaktuellen Fragen wie „digitale Informantenschutzrechte“ (Daniel Moßbrucker / TU Dortmund).

Wie ich überhaupt hoffe, dass Befunde der Kommunikationswissenschaft das epochalistische Raunen um den Medienwandel weiter relativieren können. Indem sie uns konstruktiv ernüchtern. Verblüffend fand ich etwa, wie stark Nutzerkommentare die Wahrnehmung von Artikeln positiv oder negativ verzerren (Marco Dohle / Universität Düsseldorf). Guter Gesprächs- und Denkstoff.

Strahlt aus: Innovative Edelfeder

Nun zur Lichtgestalt der Veranstaltung: Cordt Schnibben. Das lebende Leuchtturmprojekt des SPIEGEL. Nur autonomen Akteuren wie ihm ist es wohl zuzutrauen, die ausgehöhlte Phrase vom Qualitätsjournalismus im digital vernetzten Zeitalter mit Sinn zu füllen. Weder können ihm etablierte Print-Kollegen den Innovationsgeist weg-sozialisieren noch schüchtern ihn die aggressiven Kontaktversuche der Leserbriefschreiber ein. Zumal das Publikum ihm auch viel Hilfreiches zumutet.

So entwirft der alte Schnibben neue Formen und setzt dabei stark auf Leser-Dialog. The good, the bad and the ugly überschreibt Cordt Schnibben eines seiner Charts. Er will die gestörte Beziehung zur Leserschaft kitten, sei diese nun  gutwillig, schlecht gelaunt oder ganz hässlich.

Dazu wird es wohl bald auch eine spezielle App geben, sicher mit ganz viel Rückkanal. Toll. Einerseits.

Allerdings fehlt mir immer wieder ein wichtiger Teil des Publikums: Denn neben dem Kontakt mit den good, bad and ugly gibt es schließlich auch noch all the others. Und das sind doch ziemlich viele, selbst unter den SPIEGEL-Kunden. Die Normalos. Die Passiven. Die Unauffälligen. Die, nun ja, „Masse“.

Blickt nicht mehr durch: Publikum

Vielleicht wirkt sie nicht so attraktiv oder lukrativ auf Investoren und Innovatoren. „Massenmedien“ –  ein häßlicher Begriff eigentlich. Manche glauben jetzt, das simple Konzept „Ein Inhalt für ganz viele“ habe ausgedient. Die Lagerfeuer seien abgebrannt.  Für die Zukunft bauen wir Communities.

Dadurch liegt der Fokus nun auf einer Teilgruppe , die häufig fälschlich als „das Publikum“ bezeichnet wird: Die aktiven – oder noch zu aktivierenden – Nutzer/innen. Sie bilden jedoch nur eine Minderheit, mit allerdings hohem Zuwendungsbedarf.

In diese Richtung weisen die Befunde des DFG-Projektes „Die Wiederentdeckung des Publikums„: Selbiges sei doch passiver als häufig behauptet bzw. erhofft. Andererseits stellt es einen hohen Anspruch an die Dialogfähigkeit der Medien. Dort wo die Nutzer den Dialog führen, bedeutet das für die Macher/innen hohen Aufwand. (Schöne Zusammenfassung hier)

Keine Forschungslücke also, aber möglicherweise eine im Bewusstsein: Wird tatsächlich genug nachgedacht über den Teil der Nutzer, der das generöse Mitmachangebot des neuen Zeitalters ausschlägt? Einfach nur lesen, hören und gucken will?

Sicher, der Publikums-Dialog muss weitergehen, aber letztlich bleibt es doch bei dem, mir zumindest, wohlvertrauten Spagat zwischen Avantgarde- und Mainstream-Orientierung. Dass der immer so schmerzt, hat im Mediengeschäft mit zwei knappen Ressourcen zu tun: Kompetenz und Kapazität.

Publikums-Dialog setzt einerseits Fähigkeit und Bereitschaft auf beiden Seiten voraus (Kompetenz). Und er erfordert  andererseits enormen Aufwand (Kapazität). Wir sprechen also von qualitativen und quantitativen Ressourcen. Haben Medien denn genug davon, um die großen Versprechen des neuen Zeitalters zu erfüllen: Stärkere Beteiligung an und bessere Versorgung mit Inhalten?

Klärt auf: Öffentlichkeit

Man  kann das Problem „zerfasernder Öffentlichkeiten“ natürlich lösen, indem man einfach den Begriff zerfasert. Für die Heinrich-Böll-Stiftung hat Netz-Denker Christoph Kappes unlängst die „alte“ massenmediale Öffentlichkeit kunstvoll wegdefiniert. Um sie dann anschließend im Internet wiederauferstehen zu lassen, besser denn je – als „atmende Galaxie“ (Kappes). Unendliche Weiten …

Mein Zweifel – oder meine Verständnisschwierigkeit : Wie kann sich eine Gesellschaft verbindlich verabreden, also gemeinsam handlungsleitenden Sinn produzieren? Das ist für mich eine, nein die entscheidende Zukunftsfrage der Medien.

Wer demokratische Öffentlichkeit organisieren will, braucht nach meiner Überzeugung weiterhin Angebote, die ein breites Publikum (ver-) binden. Sogar mehr denn je, wie die sich abzeichnende Spaltung der Gesellschaft in Mediennutzer und -Verächter belegt.

Wir dürfen somit Medienwandel nicht nur technisch oder wirtschaftlich diskutieren.

Er ist enorm politisch. Uijuijui…

 

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