Leitmedien und Medienleid

 

Lizenz zum Labern

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Was? Noch ein Text zur Medien-Kritik beim Thema Germanwings? Ich könnte die Frage jetzt verstehen. Langsam verfertigte Gedanken führen ins Dilemma: Zu spät als Nachricht und zu früh für ein abschließendes Urteil. Wie ungerecht, denn genau diese Phase –  zwischen Absturznachricht und Abschlussbericht – entscheidet darüber, ob sich überhaupt etwas zum Besseren ändert.

Quoten und Klick-Bilanzen wirken noch etwas nach, aber das Ereignis selbst rückt an den Rand. Bevor uns nun der Cyber-Dschihad entnetzt und ein Blick auf die Smartwatch zeigt, dass es endgültig zu spät ist, sollten wir also die Zeit nutzen. Sicher kein Selbstläufer, auch wenn vieles dafür spricht, dass das Thema Medienethik nicht mehr von der Tagesordnung verschwinden wird. Denn die Moral stand ja immer auf der Agenda, seit der Journalismus das Zwielicht der Welt erblickt hat.

Rückblende: Team im Trüben

Ich schreibe aus Erfahrung und versuche mit einer Rekonstruktion aus dem Gedächtnis etwas Selbstreflexion. Meine Geschichte als Teil einer Medienmeute sähe dann so aus:

Unterwegs mit einem TV-Team in Nordwestniedersachsen, vor nicht ganz 20 Jahren. Mitte bis Ende der 90er Jahren haben dort Fälle von Entführungen und Morden an jungen Mädchen die Öffentlichkeit bewegt. Gewaltiges, gruseliges Aufsehen erregt.

Die Kinder verschwanden einfach auf dem Nachhauseweg. So viele waren an diesem Tag auf der Suche: Die verzweifelten Eltern, die Behörden – und wir, „die Medien“. Allerdings suchten wir Geschichten. Wie ist der Stand der Ermittlungen? Wie werden die Angehörigen mit der Situation fertig? Was denkt die Bevölkerung? Müssen Eltern vorsichtiger, muss die Polizei wachsamer werden? Mutmaßliches öffentliches Interesse.

Dann hören wir im Autoradio folgende Meldung: Taucher hätten aus einem Binnenschifffahrts-Kanal eine Leiche gezogen, meldet ein Privatsender. Hektische Recherche-Telefonate. Schnell wird klar: Eine Falschmeldung. Jemand hatte eine schwarze Sporttasche ins Wasser geworfen.

Für die meisten Beteiligten erzeugte das einen ärgerlicher Störfall; auf die Eltern – wenn sie es denn mitbekommen haben – wirkte die Breaking News wohl wie Folter. So quälend wie die Zudringlichkeit der Journalisten vor ihrer Haustür, von denen einige sogar mit ihren hohen Geldsummen für die Exklusiv-Story warben.

Und wir öffentlich-rechtlichen Fernsehleute? An dem bewussten Tag sind wir vor allem viel herumgefahren. Recherche, kombiniert mit Motivsuche. Zeit für Diskussionen im Teamwagen: Was machen wir hier eigentlich? Denn neue Fakten gab es ja kaum. Dafür abends eine Sendung und eine, nun ja, redaktionelle Deadline.

Immerhin konnten wir die Suchaktion einer Hundertschaft der Polizei filmen und dezente illustrierende Bilder sammeln („Auf diesem Weg ist das Kind verschwunden.“ „Dort, hinter dem Waldstück, liegt das Haus der Eltern.“). Oder Stimmen aus dem Ort einholen: „Wir sind noch ganz fassungslos.“

Das Publikum auf dem Laufenden halten und dabei den Betroffenen nicht zu nahe zu treten. Ich gestehe, ob nun als drängelnder Redakteur oder als aufdringlicher Reporter, das ist ein verdammt schwieriger Auftrag, eine unangenehme Rolle. Und ich fürchte, das war es schon immer.

Wenn ich mich noch richtig erinnere, haben wir abends einen kleinen Filmschnipsel gesendet. Inhalt: Suche erfolglos fortgesetzt. Eine Vergeblichkeitsmeldung sozusagen. „Nichts Neues“ als Nachricht.

Chronistenpflicht erfüllt, keinen Fehler gemacht, würde ich im Nachhinein noch sagen. Aber trotzdem waren wir Teil eines publizistischen Gewitters, das über einer ohnehin gebeutelten Gegend niederprasselte. Dabei hat es sicher weiteren Schaden angerichtet.

Zeitenwende: Tipping Moment?

Norddeutschland und Südfrankreich im Abstand von fast 20 Jarhen – wie sich dennoch die Strukturen ähneln: Spekulationen, Falschmeldungen, „Witwenschütteln“, Scheckbuchjournalismus, Rudel-Verhalten. Wirtschaftlicher Druck, technische Zwänge, handwerkliche Unzulänglichkeiten – und moralische Skrupellosigkeit.

Nun fragt sich also, was das Neue am alten Problem sein soll. Vor allem, ob sich etwas ändern lässt.

Ich hatte mir Stefan Niggemeier als einen glücklichen Menschen vorgestellt. Denn er ist Medienkritiker und auf diesem Feld herrschte stets Hochkonjunktur. Anders als ein berühmtes Zitat das vermuten lässt, macht diese Arbeit  Sisyphos niggi aber offenbar nicht glücklich; und das hat er sehr bemerkenswert beschrieben.

In dem Beitrag bringt Niggemeier eine grundlegende Paradoxie auf den Punkt: Einerseits ist es wie immer: Einige Journalisten blamieren sich und ihre Branche. Und andererseits scheint diesmal etwas besonderes geschehen zu sein.

Etwas, was im Englischen vielleicht als „Tipping Moment“ bezeichnet würde. Oder „Der Finanzkrisenmoment der Journalisten“, wie der Blogger Thomas Knüwer behauptet.

Kolumnist Hans Hoff meldete sofort vorsorglich gleich die ganze Profession vor der Geschichte ab. Letztlich ist seine These „Der Journalismus existiert nicht mehr“ aber doch eher ein Selfie: Denn Hoff legt Zeugnis über seine persönlichen- nachvollziehbaren – Kriterien für ehrbares Medienschaffen ab. Selbst-gerecht.

Wahrscheinlicher als eine Endzeit-Vision erscheint mir das Bild von der Verflüssigung, vom dauerhaften Zwischenzustand, auch der Medien. Wie so oft beim digitalen Wandel, besteht die besondere Qualität auch hier in der Quantität, genauer: In der schieren Menge medienkritischer Äußerungen und der atemberaubenden Geschwindigkeit ihrer Verbreitung.

Dabei sollten wir wirklich versuchen, der Informationsrevolution nicht das ursächlich vorzuwerfen, was sie letztlich nicht erzeugt hat. Neu ist also nicht der Inhalt der Journalismus-Schelte, sondern die Tatsache, dass niemand sie mehr übersehen kann. In des Wortes mehrfacher Bedeutung.

Bewegung kommt nun in die angestaubten, immer gleichen Diskurse. Ob dies nun eine positive oder negative Entwicklung erzeugt, wird vom Umgang mit all den Argumenten und Abgründen abhängen. Wie unterschiedlich die Selbstreflexion in der Branchen-Blase ausfallen kann, das hat für das Thema Germanwings 4U9525 die Bloggerin Annette Baumkreuz  Blog sehr anschaulich aufgelistet.

Die Berichterstattung über den Absturz hat uns nicht nur an das Risiko des Fliegens erinnert, sondern auch die massiven Nebenwirkungen von Öffentlichkeit ins Gedächtnis gerufen. (Presse-) Freiheit, die wir uns nehmen und die, die wir anderen lassen, sie hat eben ihren Preis.

Über den Gegenwert -wiederum finde ich den englischen Begriff prägnant: public value – wird vermutlich heftiger denn je gestritten. Was vermuten lässt, dass die Diskussionen etwas bewirken werden. Gesellschaftliche Kommunikation wird sich im Zusammenwirken von Auftraggeber und Auftragnehmer weiterentwickeln, denn alle machen ja was mit den Medien, beruflich, aus Berufung oder einfach so.

Im Zentrum der Debatte sehe ich drei Begriffe: Verantwortung, Medienkompetenz und Vertrauen.

Gemeinsame Verantwortung:

Auf Dauer können Journalisten, diese fragwürdigen Infrage Gestellten, der Wirrnis des Wandels ohne eigene Position zum Berufsethos kaum standhalten. Dabei geht es letztlich weniger um den Druck von außen, als vielmehr um die Bereitschaft zur Selbstreflexion. Wenn Journalisten auch einen „moralischen Standort“ beziehen, könnte das für alle Seiten hilfreich sein.

Für solches Moralisieren wirbt jedenfalls der einschlägige Münchner Professor  Alexander Filipovic. Allerdings nicht als hektische „Echtzeitmedienkritik“, sondern „im Modus der Nachdenklichkeit“ und – mit Sorgfalt. Ein zentraler Punkt bei der Kritik am Journalismus.

Nehmen wir das seltsame Gerangel um die Namensnennung und Verpixelung im Falle des Co-Piloten beim Germanwings-Absturz. Er war schnell abgeurteilt worden. Natürlich: Journalisten sind keine Ermittlungsbehörden (mal abgesehen vom Gestus, gelegentlich), denn sie sammeln Informationen und Positionen, keine gerichtsfesten Beweise.

Trotzdem besteht ein besondere Sorgfaltspflicht. Denn Öffentlichkeit kann zum Ort von Schauprozessen werden. Der Bremer Strafverteidiger Bernhard Docke – auch überregional renommiert – hat unlängst einer bemerkenswerten Rede zur Vorverurteilungspraxis von Medien den Titel gegeben: „Vom langsamen Sterben der Unschuldsvermutung“

Im Bewußtsein dieser  „DNA“ des Rechtstaates müssten Journalisten eigentlich ihr Informationsinteresse sowie ihren Kenntnisstand abwägen. Häufig, so Docke, misslinge das:

Beschuldigte werden durch frühzeitige, häufig auf Halbwahrheiten oder selektive Wahrnehmungen gestützte vorverurteilende Berichterstattung unter eine Art soziale Quarantäne gestellt und erleiden so einen gesellschaftlichen Absturz und sozialen Tod unabhängig vom späteren Ausgang des Verfahrens.

Dieses Risiko steige noch in der digital vernetzten Gesellschaft, führt Docke weiter aus:

Das Internet wirkt wie ein Teilchenbeschleuniger der Gerüchteküche, Flashmobs des gesunden Volksempfindens bilden eine Art Paralleljustiz. Die Einträge im Netz wirken auf den Betroffenen wie Tätowierungen, wie in Zement gegossenes kollektives Gedächtnis.

Ein klarer Hinweis auf die Mit-Verantwortung der heutigen Öffentlichkeit(en): Denn auch das digital emanzipierte Publikum könnte durchaus über seine Schwarm-Moral nachdenken.

Das kommerzielle MUNICH DIGITAL INSTITUTE hat dazu eine interessante Analyse auf den Aufmerksamkeitsmarkt geworfen. Die Social Media-Spezialisten setzten medienkritische Äußerungen und Web-Suchanfragen der User beim Thema Germanwings-Absturz ins Verhältnis. Ein Kernsatz:

Die Analyse zeigt, dass die Anfragen in den Suchmaschinen und die Kritik an der Medienberichterstattung in den sozialen Medien in einem gewissen Widerspruch stehen. Der Name des Co-Piloten scheint unabhängig von der Einschätzung der Medien selbst für einen signifikanten Teil der Web-Nutzer von großem Interesse zu sein. Dieses Interesse reicht bis zu seinem Wohnort.

Doppelt hält besser, auch bei der Moral. Spekulationen „verbieten sich selbstverständlich“. Es sei dann, man tut es selbst, beispielsweise über das Versagen „der Medien“, „der Presse“ oder „der Qualitätsmedien“. Und wer macht da wieder an vorderster Front mit? Richtig: Journalisten. Die größten Kritiker der Elche. Manchmal geht da aber etwas daneben. Ein kleines Beispiel hier.

Medienkompetenz für Profis und Publikum

Kommen wir zur Chance dieser Krise. Über den Sinn von Medienhandeln nachdenken, das muss eine Selbstverständlichkeit bleiben oder werden. Alledings jenseits eines wohlig-wütenden Geschimpfes über das Streben der Anderen. Und  das Publikum hat ein Recht und eine Pflicht zur Mitwirkung an der Debatte. Dazu gehört heutzutage eben auch, die Öffentlichkeit mit Kenntnissen über ihre eigenen Bedingungen auszurüsten. Was dürfen wir von Medien erwarten? Was können Journalisten leisten?

Die News für die Nachrichtenprofis: Sie werden selbst zum Thema. Dabei behandelt Öffentlichkeit ihre medialen Arbeiter genauso ungerecht wie die Journalisten bislang vor allem die anderen. Wer mag da vielen Politikerinnen ein bisschen klammheimliche Freude verdenken? Und wen wundert es, wenn interessierte Kreise eifrig in die Glaubwürdigkeitslücke „der Medien“ hineinstoßen?

Wie immer bei der Vernetzung, hängt da einiges mit einigem zusammen. Es geht nicht nur um theoretisch-ethische Vorgaben, sondern auch um den praktisch-faktischen Rahmen. Eine derartige Debatte fragt genauso nach dem Pressekodex wie nach den wirtschaftlichen und technischen Bedingungen des Mediensystems.

Somit ergeht ein Dauerauftrag an uns alle, entweder als berufslebenslanges Lernen oder als bürgerliche Laienpflicht.

Vertrauen (2.0 bis 4.0)

Wachsende allgemeine Medienkompetenz stiftet neues (Selbst-)Vertrauen. Das haben wir bitter nötig, um mit den Widersprüchen des Wandels klar zukommen. Einerseits bewegen wir uns global auf eine bis in die Klamotten (Wearebles) vernetzte Informationswelt zu. Andererseits sehnen wir uns nach verlässlichen Kommunikationsregeln, nach einem menschlichen Maß der digitalen Dinge.

Mag sein, das althergebrachte Instanzen und Journalisten ständig überfordert sind. Und dass mediale Schleusen genauso ausgedient haben wie menschliche Gatekeeper. Aber irgendwie müssen wir der Fluten Herr/Frau werden; und das wird anstrengend: Wenn eine Gesellschaft ihrem publizistischen Agenten mehr oder weniger das Vertrauen entzieht, hat sie die Verantwortung für die Herstellung von Öffentlichkeit wieder selbst an der Backe.

Der Diskussion um Zustand und öffentlichen Auftrag der Medien ein breites Publikum zu schaffen, diese Aufgabe wirkt noch nicht befriedigend gelöst. Vielleicht werden viele verschreckt vom routinierten Schlagabtausch zwischen kotzbrockiger Kommentarkultur „im Netz“ und rotzigen Reaktionen in „den“ Redaktionen.

Nun aber gilt es, also einiges zu hinterfragen, von den Geschäftsmodellen bis zur Geschäftsmoral, von den Fragetücken bis zur Filtertechnik. In Fachforen und Filterblasen. An Universitäten und in Schulen. Auf dem Parkplatz und am Frühstückstisch.

Meine möglicherweise sehr naiv wirkende, vorläufige Schlussfolgerung führt mich dazu, Paul Watzlawiks berühmten Satz „Man kann nicht nicht kommunizieren“ doppeldeutig zu aktualisieren:

Man kann nicht genug über Medien kommunizieren.

tl;dr: Die Kritik an der Absturzberichterstattung hat die Frage nach dem Medienmoral gesellschaftlicher Öffentlichkeit aufgeworfen. Nach Verantwortung, Medienkompetenz und Vertrauen: Für eine Antwort müssen wir uns Zeit nehmen, Profis und Publikum.

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