Manchmal gibt eine kleine Bemerkung den Blick frei auf eine große Wahrheit: „Was realistisch ist, ist jetzt erst mal relativ egal.“ Das Zitat stammt aus einem Radio-Expertengespräch zum Safe Habor-Urteil des EuGH. Der Satz stimmt einfach. Für den Digitalen Wandel genauso wie für die Flüchtlingsfrage.
Legal
Diesen Aha-Moment verdanke ich Alexander Sander von der Organisation „Digitale Gesellschaft“. Der Verein kritisiert routinemäßig sowohl den staatlichen Informationshunger als auch die wirtschaftliche Datengier. Sander nahm in der Sendung Töne-Texte-Bilder auf WDR 5 Stellung. Positiv, denn er sah die Rechte des Datenschutzes durch den EuGH gestärkt.
Der Europäische Gerichtshof hatte festgestellt, dass Server in den Vereinigten Staaten keineswegs im datenschutzrechtlich sicheren Hafen verankert sind. Nun funktioniert das Safe Harbor-Abkommen also nicht mehr und europäische wie amerikanische Firmen müssen sich an den hiesigen Standard halten, wenn sie personenbezogene Daten aus Europa in den USA verarbeiten wollen.
Entsprechend euphorisch reagierte Heribert Prantl von der Süddeutschen. Spektakulär, mutig und sensationell sei der Richterspruch:
Das Urteil gibt dem Datenschutz den Rang, der ihm in den Zeiten des Internets gebührt. Es stellt klar:Die digitale Revolution darf nicht zur digitalen Inquisition werden.
Aber lassen sich unsere persönlichen Informationen eigentlich so sauber einzäunen, ohne gleichzeitig wesentliche Verbindungen der digitalen Vernetzung zu kappen? Nun, sagen wir mal: Nein.
Was jedoch sehr hart klingen würde. Daher hat es Herr Sander von der Digitalen Gesellschaft vermutlich unbewusst verräterisch anders formuliert, als er gefragt wurde, ob denn eine Umsetzung der Vorgaben des Gerichts realistisch sei:
Was realistisch ist, ist jetzt erst mal relativ egal, weil der EUGH hat ein Urteil gefällt. Ja und es muss am Ende eine Lösung geben.
Ja und diese Sätze enthalten für mich eben eine tiefe Botschaft. Eine richtlinienkompetente Setzung nach dem Motto „Wir schaffen das schon!“ Wobei prinzipiell nicht ganz genau beschrieben wird, was genau. Oder gar wie.
Real
Denn in der schnöden Wirklichkeit wären schon Zweifel angebracht. Jeanette Hofmann vom Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft sagte in der Sendung Breitband im DLF, der EuGH habe wohl „der Politik einen Spiegel“ vorhalten wollen, um sie damit auf die Widersprüchlichkeit von Regeln und Realität hinzuweisen. Diese Lücke zu schließen, wäre jetzt Verhandlungssache.
Was auch immer allerdings Gegenstand der Verhandlungen werden soll. Denn beim „Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung“ kommt das Recht echt an seine Grenzen, meinen Juristen.
Wie etwa Hans Peter Bull, der erste Datenschutzbeauftragte der Bundesrepublik. Im Klappentext zu seinem neuen Buch dräut es:
Das Menschenrecht auf Privatsphäre ist zwar weltweit anerkannt, es kann aber nicht die übermäßige Kommerzialisierung aller Lebensvorgänge verhindern oder die wirtschaftliche Macht der großen Internetkonzerne einschränken.
Offensiv netzaffine Law-Blogger wie Thomas Stadler weisen seit Längerem darauf hin, dass unsere bisherige Auffassung von Privatheit etwas Disruption vertragen kann, wenn es um die Zukunft geht:
Die Entscheidung zeigt aber auch, dass das Grundkonzept unseres Datenschutzrechts, das auch durch die geplante Datenschutzgrundverordnung nicht in Frage gestellt wird, den Anforderungen des Internetzeitalters nicht genügt und letztlich zu unauflösbaren Widersprüchen führt.
Egal
Es geht also bei der Bewertung des EUGH-Urteils und des Datenschutzes im Netz weniger um juristische Auffassungsunterschiede bei rechtlichen Lösungen. Im Grunde besteht vielmehr eine unversöhnliche Idealkonkurrenz: Zwischen dem Ziel, althergebrachte individuelle Privatsphäre zu erhalten einerseits und dem Wunsch, eine offen digitale Gesellschaft zu erschaffen andererseits.
Die einen wollen die Daten der Bürger schützen. Mit einem klassischen Abwehrrecht des Einzelnen gegenüber dem übermächtigen Staat, jedoch auch gegenüber gigantischen Monopolisten, wie Facebook. Die Firma war ja immerhin der konkrete Anlass für den Kläger Max Schrems.
Die anderen wiederum wollen die Daten vor den Bürgern schützen. Denn sharing is caring und ohne einen freien Fluss auch der persönlichen Informationen würde die Entwicklung einer digital vernetzen Gesellschaft erheblich stocken.
Manche halten dieses Ringen je ohnehin für längst gelaufen. So wie der Autor Michael Seemann. Weil der Digitalen Wandel alternativlos ist, berichtet der Autor Michael Seemann deshalb aus einer Post-Privacy-Perspektive. Diese hat er in einem sehr aufschlussreichen Buch „Das neue Spiel“ beschrieben.
Für Seemann gelten die Regeln von gestern nicht mehr in der Welt von morgen. Also:
Wenn es nach mir ginge, säh ein neues Safe Harbor-Abkommen wie folgt aus: „Macht mit den Daten was ihr wollt, aber bitte gebt sie nicht an meinen Staat weiter. Danke!“
Legal + real = egal
Bringen wir das Ganze auf die Formel: Legal + real = egal. So egal wie das unbewusste Weg-Klicken von Warnhinweisen und Einverständnis-Erklärungen. Damit alles seine Ordnung hat. Und es trotzdem irgendwie weitergehen kann. Weil es sowieso weitergehen muss und wird.
In diesem Akt der meisten Nutzer liegt mehr als bloße Faulheit, eher eine örtliche ethische Betäubung. Mit einer flüchtigen Bewegung versichern wir uns zu einer Regelkonformität, die uns beruhigen, sich aber gleichzeitig nicht auswirken soll auf die Performanz der Realität.
Diese Methode bekommen wir beim Thema Flüchtlinge täglich vorgeführt. Nehmen wir den aktuellen Streit um „Transitzonen“ an den Grenzen. Hier wird politisch intensiv gerungen, ohne wirklich zu wissen, was das sein und wie das gehen soll.
Gleichwohl erfüllt diese simulative Politik eine wichtige Funktion: Sie soll Prozessvertrauen schaffen, wo es heutzutage für Planungen immer schon zu spät ist.
„Was realistisch ist, ist jetzt erst mal relativ egal.“
Wahrscheinlich geht es nur so in der Flüssigen Moderne
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