Ein wackliger Video-Wortwechsel, unterschwellig voller Aggression – der ungebetene Besuch zweier prorussischer Blogger bei der Rechercheplattform Correctiv diese Woche hat gezeigt: Mediale Auseinandersetzungen bewegen sich mittlerweile an der Grenze zur Gewalt.
Sie eilen durch einen Hinterhof, hetzen eine Treppe hinauf. Aufgekratzt. Aufgeregt. Und die kleine Kamera bewegt sich mit Ihnen: Zwei Männer mit Mission auf ihrem Weg in die Redaktion der gemeinnützigen Rechercheplattform Correctiv. Bekannt wurde diese beispielsweise durch Aufsehen erregende Enthüllungen zum Abschuss des Fluges MH-17 über der Ukraine 2014.
Die Herren betreten die Redaktionsräume. Einer der beiden schleudert den verblüfften Mitarbeitern wiederholt das Wort „Lügenpresse“ an den Kopf. „Why are you lying?“ fragt er zudem immer wieder und wirft dem Journalistenkollektiv die manipulative Verzerrung von Aussagen beim Bericht über MH-17 vor.
Die Eindringlinge wollen auch nicht weichen, als sie zum Verlassen des Büros aufgefordert werden. Irgendwann werden sie dann doch hinaus komplementiert, filmen noch mal von außen mit Selfie-Stick in die Redaktion. Die filmt zurück – „Schuss“ und „Gegenschuss“.
Als sich die herbeigerufene Polizei der Szene nähert, treten die beiden Meinungskämpfer eilgst ab. Bei den ungebetenen Besuchern handelt es sich um den Videoblogger Graham Philips und um Billy Six, der u.a. für das rechte Blatt „Junge Freiheit“ geschrieben hat. Vielschichtige Akteure.
Ähnlich Verstörendes hatte vor kurzem der ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt erlebt. Eine überaus engagierte Reporterin des russischen Fernsehens unterstellte ihm im Interview falsche Berichterstattung, antirussische Haltung und Bestechlichkeit. Als der Gescholtene das TV-Team genervt aus seinem Zimmer wies, kam es zu Streit und Rangeleien. Die dramatischen Kamera-Wackelszenen schafften es in die großen russischen Nachrichtensendungen.
Hierzulande fallen die Reaktionen auf derlei Vorfälle differenzierter aus: Medien berichten besorgt und solidarisch. Bei Radio Eins nimmt Correctiv Stellung. Chefredakteur Markus Grill vermutet einen Versuch der Denunziation und Einschüchterung. Denn einer der Besucher, Graham Philips, sei eher Aktivist als Journalist, der schon mal in der Ukraine in Separatisten-Uniform posiert. Schließlich hatte Correctiv den Abschuss einer Passagiermaschine der Malaysia Airlines 2014 der russischen Seite zugeordnet.
Perspektive wechseln
Die gereizten Russen schlagen zurück. Bis hierhin habe ich also den Fall tendenziell als Putin-Troll-Propaganda geschildert. Oder bin ich tendenziös? Kurzer Perspektiv-Wechsel.
Könnte es sein, dass die Ukraine-Berichterstattung westliche Medien einen „blinden Fleck“ aufweist? Sollten sich nicht auch Journalisten/innen kritischen Rückfragen stellen? Und wären unter Umständen auch provokante Mittel wie Überraschungsbesuche eine zulässige Form? Ja, das könnte alles sein. Medien blicken plötzlich neuerdings tatsächlich oft in ihre eigenen Sturmgeschütze.
Provokante mediale „Überfall-Aktionen“ kennen wir ja schließlich aus vielen, vor allem investigativen Fernseh-Formaten. Am Rande der Blumenschau drängt das TV-Team an den Minister heran: „Herr Soundso – warum haben Sie unser Fax zum Gülleskandal nicht beantwortet? Haben Sie etwas zu verbergen? Ist es, weil Ihre Partei Spenden bekommt? Herr Minister! Herr Minister…“ (Minister verlässt den Raum, abgeschirmt von Personenschützern. Aufsager. Kritische Schlußbemerkung. Grimmepreis)
Nicht-fiktiv, habe ich Vergleichbares vor über 20 Jahren schon beim Regionalfernsehen mitgemacht. Da galt es als schickes Stilmittel, einfach mal mit „offener Kamera“ etwa bei unbeliebten Behörden herein zu schneien und zu fragen: „Was machen Sie gerade?“. Und weil da nicht jede/r souverän reagiert hat, konnte man bespielsweise die These von den unfähigen, unwirschen Beamten ganz prima illustrieren.
Immerhin: In der Redaktionskonferenz wurden solche „Nummern“ sehr kritisch diskutiert. Nach derlei Drehs haben sich oft übrigens auch Kameraleute beschwert und gefragt, wie die Reporter/innen wohl selbst reagiert hätten, bei solchen „Überfällen“. Teamarbeit ist immer auch Qualitätssicherung.
Gelassen bleiben
Soviel zu früher. Zurück zum Correctiv-Fall: Neben branchenweiter Empörung über den mutmaßlichen Hausfriedensbruch von Graham und Six gibt es auch einige selbstreflexive und selbstkritische Reaktionen: Der Blog Schlecky Silberstein empfiehlt rollenkonform, die Sache mit Humor zu nehmen und die Aktion der beiden „Flitzpiepen“ tiefer zu hängen, im übetragenen Sinne.
Ausgerechnett die Medienfront (sic)-Frau Silke Burmester – sonst kein Kind Traurigkeit in Sachen Polemik – fordert sogar verbale Abrüstung:
Ich bin die Letzte, die die verteidigen will, aber Vorsicht mit Wörtern wie „Überfall“ + „stürmten“ https://t.co/QzYOY6bGwR @correctiv_org
— Silke Burmester (@Medienfront) 3. August 2016
Auffällig ist: Wo immer jetzt gerade große Themen in der Medien-Meta-Branche heiß laufen, zeigt sich ein Diskussionsmuster: Zunächst Aufregung, dann Kritik an der Aufregung. Nur nicht provozieren lassen.
Nur nicht provozieren lassen?
Nicht wegsehen
Ich fürchte, ignorieren reicht nicht mehr. (Was man ja schon an diesem Blogbeitrag erkennen kann.) Wir sollten derlei aggressive Störfälle sehr sorgfältig registrieren. Wo es journalistische Fehler gibt, kann man diese ja diskutieren. Publizistische Kommandoaktionen ala Graham und Six gilt es öffentlich zu brandmarken. Denn sie verhindern zuverlässig jene Phase der Beruhigung, die der Auf- und Abregung im Meinungsstreit eigentlich folgen müsste.
Stattdessen werden die Diskussionen, die man offenbar nicht miteinander führen kann, in den eigenen Meinungswelten weitergetrieben, übertrieben. So setzt sich die Eskalation auf anderen Ebenen, vor allem in den sozialen Medien, fort. Paradoxerweise würden hier Versuche, die Geschichte in den „Systemmedien“ herunterzuhängen, den Skandal-Reflex in der Parallel-Welt sogar noch vergrößern. „Zensur“ ist schließlich ein entscheidender Anstoß für das perpetuum mobile des „Lügenpresse“-Vorwurfs.
Schon dieser Befund einer gesellschaftlicher Sprachlosigkeit durch Gebrüll in Echo-Kammern ist bedenklich genug. Unterschätzen wir vor allem aber nicht die körperliche Dimension solcher Vorfälle. Noch durch den distanzierten Blick der Kamera bleibt Kampf spürbar. Sorgt – jedenfalls bei mir – für Beklemmung. Zwar fliegen keine Fauste oder fließt Blut, aber es entsteht eine Wucht, die die Beteiligten berührt.
Sicher – keiner verliert die Nerven in diesem provokativen Ringen. Alle beherrschen sich.
Aber: Wie lange noch?
Ich finde überhaupt nicht, dass „Correctiv“ unabhängig oder sachlich unvoreingenommen über MH-17 berichtet hätte und kann daher die Empörung von Graham Philips verstehen.
Es ist demagogisch zu behaupten, der Fall MH-17 sei geklärt. Jede der gängigen Theorien zum Abschuss (Rebellen-BUK, Russen-BUK, Ukrainer-BUK, Militärflugzeuge) hat entscheidende Schwächen und enthält kein überzeugendes Motiv für den Anschlag. Zu behaupten, es sei ein Versehen gewesen, ist ebenso unbewiesen und fragwürdig.
Mit meinem Beitrag wollte ich die Schuldfrage beim Abschuß des Flugzeugs gar nicht aufgreifen. Natürlich darf man die Recherche-Ergebnisse von Correctiv anzweifeln oder sich sogar darüber empören. Auch eine harte argumentative Konfrontation sollten Journalisten/innen heute aushalten können. Sogar ein nicht angemeldetes Interview. Dem Team Graham/Six ging es nach meinem festen Eindruck aber ganz offensichtlich nicht um Aufklärung, sondern ums Boßstellen. Ums „Lügenpresse“-Brüllen. Wenig Erkenntnis, viel Emotion. Form statt Inhalt. Krawall-Kritik eben. Mir wird das zu körperlich.
Darum ging es uns:
https://www.youtube.com/watch?v=MhJJYANt0s8