Ungewöhnlich – Ein Journalist, der bewusst ganz nah herangeht, distanziert sich auf einmal. Grimme-Online-Preisträger Tilo Jung wendet sich per Blogpost von seinem Interviewgast bei „Jung & Naiv“, Martin Lejeune, ab. Weil der die Hamas auch dann noch sehr gut versteht, wenn sie mutmaßliche Kollaborateure hinrichtet. Reift oder scheitert da gerade ein Stück Journalismus neuer Generation?
Um diese SEO optimierte Frage gleich am Anfang zu beantworten: Für eine Antwort ist es eigentlich zu früh. Bitte jetzt trotzdem weiterlesen! Derartige Niederlagen stecken Journalisten seit Mediengedenken immer wieder ein. Kein Grund zur Häme in den Traditionsbetrieben. Aber wir lernen an diesem Beispiel einiges über Zustand und Zukunft öffentlicher Kommunikation. „Jung & Naiv“ – ein Lehrstück zum Generationswandel im Journalismus.
Das verdankt sich nicht zuletzt der Offenheit, mit der Jung auf die Kritik an seiner Sendung reagiert hat. In einem öffentlich-rechtlichen Sender wäre die Reihenfolge vermutlich: Interne Anhörung, knappe Verlautbarung („nehmen ernst, prüfen…“), Gremienbefassung („kritische Diskussion“), etwas ausführlichere Presseerklärung („Bedauern, künftig darauf achten…“). Bei Jung sieht das Ergebnis nicht anders aus, es geht aber wesentlich schneller.
Als Format kommt Jung & Naiv im besonderen Gestus dieser Zeit daher: Kein Medienapparat, wenig Technikaufwand und die Basis im Netz, auf You Tube. Dafür setzt man auf starkes persönliches Engagement. Protagonist Jung (Jahrgang 1985) spielt eine Rolle, die des naiv neugierigen Selbstdarstellers in situ. Was hier gelingen soll, wenn es denn gelingt, sind „erstaunliche Augenblicke der Wahrheit“ (Zitat Jung).
Genau beim Wahrheitsbegriff zeigen sich gleichzeitig die Grenzen. Schließlich bedeutet Wahrheit mehr, als nur nicht beim Lügen erwischt zu werden. Geht darüber hinaus, aufrichtig Quatsch zu erzählen. Ja nicht einmal richtige Tatsachen reichen aus. Neben Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Korrektheit kommt es vor allem auf Vollständigkeit an. Was nützen Halbwahrheiten wirklich?
Daran scheitern Medien allerdings nahzu grundsätzlich. Aber man kann mit Begriffen wie „Kontext“ oder, nun ja, „Ausgewogenheit“ arbeiten. Immerhin: Auf seiner Nahostreise während des Gaza-Konflikts hat Tilo Jung in Palästina und Israel sehr unterschiedliche Persönlichkeiten getroffen. Wer genug Zeit hat, kann im gesamten Material tatsächlich pro und contra Meinungen einholen.
Insofern verstehen manche Kunden von „Jung & Naiv“ gar nicht, warum sich deren Hauptdarsteller nun ausgerechnet von diesem einen polarisierenden Gast distanziert. Und das erscheint durchaus nachvollziehbar. Der Mann aus Gaza, Martin Lejeune, ist sicher die schillerndste, vielleicht unseriöseste Gestalt der Interviewreihe zum Theme bei „J&N“. Aber mit Sicherheit war er nicht der einzige, der seine Positionen trickreich, polemisch und übertrieben dargestellt hat.
Hier kommen wir an eine entscheidende Frage für jeglichen Journalismus: Handelt der Interviewer aus einer Haltung heraus oder nimmt er nur eine Pose ein? Im einen Fall muss er genau wissen, wie er mit dem Instrument der Naivität zu professionellen Ergebnissen kommt. Im ungünstigeren Fall hält er gutgelaunt Demagogen das Mikro hin.
Wie stellt ein Format wie Jung & Naiv bei hochkomplexen und emotionalen Konflikten wie dem Gaza-Krieg Qualität sicher? Die Antwort liegt, wie leider so oft, im Aufwand. Ohne einen umfangreichen redaktionellen Kontext stehen Fragesteller den argumentativ hoch gerüsteten Interviewpartnern dann doch manchmal argumentativ machtlos gegenüber. Fragt sich also, wie weit in diesem Fall die Erträge aus Sponsoring, Werbung und Crowdfunding reichen.
In ihrer Würdigung des Preisträgers Jung deutete die Grimme-Preis-Jury jedenfalls an, dass sie sich in bestimmten Situationen härtere Nachfragen gewünscht hätte: das „gezieltere Nachhaken bei allzu platten Antworten“. Fast visionär … Aber im Zentrum stand in Marl wohl vor allem das Motiv, die junge Journalistengeneration zu ermutigen, auch mal Risiken einzugehen.
Auf Projekten wie „Jung & Naiv“ ruhen dadurch leicht überzogene Hoffnungen auf Innovationen im Journalismus. Andererseits werden sich einige Beharrungskräfte auch wünschen, dass die Jungspunde einfach in der rauen journalistischen See baden gehen.
Was wir aber tatsächlich erleben, hat Tilo Jung in seinem Blogpost klar ausgedrückt: einen „Lernprozess“. Für alle, Medienakteure und ihr aktives Publikum. Bleiben wir also gespannt: „Jung & Naiv“ wird weitere Folgen haben.
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