Seit heute schaut die Welt ganz anders auf diese Stadt: Google Street View öffnet uns einen gestochen scharfen Blick auf Campi und Canali, auf Riva und Rialto, auf Dogenpalast und Dogana. Ob wir nun in Bottrop oder in Bangkok vor dem Screen sitzen, wir können uns durch die Gassen der Stadt bewegen, gar zu Mausklick-Gondolieres werden. Die digitale Vermessung der Welt hat einen neuen symbolischen Punkt erreicht. Faszinierend und erschreckend zugleich – ich weiß nur noch nicht, ob es ein Höhepunkt oder ein Tiefpunkt ist.
Meine spontane Reaktion auf das Projekt würde ich jedenfalls in etwa so beschreiben, wie es der Blogger Constantin Seibt vor kurzem in gänzlich anderem Zusammenhang getan hat:
1. 1. Keine schlechte Idee!
2. 2. Fuck!
Warum so ordinär? Nein, nicht weil ich über Google meckern möchte. Mich macht es einfach fertig, dass ich nicht weiß, was ich davon halten soll. Noch nicht.
Die Spezialisten der globalen Informationsmaschine haben nämlich einen beeindruckenden Job erledigt. Google war vor Monaten mit dem „Trekker“ in Venedig unterwegs. Das Spezial-Kameragestell mussten stramme Wanderer durch die Stadt in der Lagune bugsieren, mal zu Fuß und mal in der Gondel: „.. etwa 426 km zu Fuß und gut 183 km im Boot…“ wie es im offiziellen Blog der Weltsuchmaschine von heute heißt.
Dort postet mit dem Street View-Operationsmanager Daniele Rizzetto übrigens ein – nach eigenen Angaben – „stolzer Venezianer“. Er schreibt:
Die Lagunenstadt Venedig ist tief in unserer Kultur verwurzelt, und es fällt nicht schwer zu verstehen, warum sie über so viele Jahrhunderte hinweg eine einzigartige Faszination auf Künstler, Filmemacher, Musiker, Stückeschreiber und Pilger ausübte. Wir hoffen, dass diese Faszination nun auch auf Street View-Touristen übergeht.
In der Tat: Es bietet durchaus Vorteile für die vom Massentourismus bedrängte Stadt, denn virtuelle Touristen können Gassen weder verschmutzen noch verstopfen. Außerdem: Wer sich in die Geschichte und Geschichten der Stadt vertiefen möchte, der erhält ein durchaus interessantes, interaktives Angebot. Ein Link zum Webauftritt des Museo Correr – und schon ist es beispielsweise um mich geschehen.
Wenn ich real in Venedig bin, dann halte ich mich besonders häufig im Stadtteil Castello auf. Deshalb habe ich heute gleich mal streetviewtechnisch in der Gegend vorbei geschaut. Und glatt eine mir bekannte ältere Venezianerin entdeckt! Sie guckte wohl gerade aus dem Fenster ihres Hauses in einer kleinen Gasse, als der Google-Akrobat mit seinem Trekker vorbeimarschiert sein muss. Natürlich war sie, wie üblich bei Street View, verpixelt. Was vielleicht ganz gut ist, da sie eher von mürrischem Temperament ist.
Was sie dem Street-View-Pionier zugerufen haben mag? „Che cosa – Was machen Sie denn da?“
Ja, was geschieht da eigentlich: Mir spukt schon länger die Frage im Kopf herum, ob man eine Stadt wie Venedig eigentlich auch visuell abnutzen kann, so wie ein Möbelstück? Vielleicht kommt der Tag, an dem ein Bild zu oft gemalt wurde, ein Foto zu viel geschossen oder ein Film zu viel gedreht sein wird. Oder ist es schon jetzt soweit? Liegt die Serenissima seit heute so phantasietötend transparent, so bar jeglichen geheimnisvollen Winkels, so vollständig entblößt vor uns – dass wir den Blick abwenden und sie einfach nicht mehr sehen können? Kulturpessimistisch betrachtet, keine Frage: Ja – Venedig ist nun wirklich, tatsächlich, ganz in echt untergegangen!
Andererseits spricht da alle Erfahrung dagegen. Übrigens auch mein kurzer Klick-Trip durch Google Street-View. Denn natürlich hat es der „Trekker“ nicht geschafft, hinter die hohen Mauern der vielen verwunschenen Gärten der Stadt zu gucken. Er drang nicht in die unzähligen Hinterhöfe vor. Also bloß kein vorschneller Alarm.
Wir wissen noch nicht, was das neue, verblüffende Street-View-Angebot mit dieser Welt macht. Genau das ist mein Problem: Ein vermutlich historischer Tag. Sicher. Aber dann? Ein Ende? Ein Anfang? Ein Verlust? Ein Gewinn?
Im Grunde weiß ich nicht einmal, ob ich ein Problem habe.
[…] seit mehr als einem Jahr gibt es sowieso schon eine Google-Street-View-Ausgabe Venedigs, erlatscht von zwei kräftigen Gesellen mit einer Kamera-Spezial-Konstruktion. Fast alles […]