Generation Corona – soziologische Modellrechnung

Schutzbehauptung

Erst die chinesische Provinz Wuhan, dann Italien und jetzt wir? Gerade legen ganze Nationen eine gesellschaftliche Vollbremsung hin. Wenn das mal kein „Prägendes Ereignis“ im Sinne der Generationensoziologie ist.

Warnhinweis! Bitte reiben Sie sich jetzt gleich nicht die Augen. Natürlich ist die folgende, soziologisch angehauchte Modellrechnung ziemlich spekulativ, oberflächlich und insgesamt eher metaphorisch als seriös!

Seriös ist Prof. Klaus Hurrelmann. „Generation Greta“ lautet der Titel seines neuen Buches . Der Soziologie ist einer der führenden deutschen Generationsforscher („Shell Jugendstudie“). Seit Jahren arbeitet er auf überzeugender theoretischer und empirischer Basis an diesem Thema. Mit einiger Empathie haben er und sein journalistischer Koautor Erik Albert mit der klimasensiblen Generation Greta eine Jugend mit Zukunft portraitiert. Dennoch könnte das Label einen Tick zu spät kommen.

Denn vielleicht wird gerade jetzt die wirkmächtige „Generation Corona“ (Arbeitstitel, ginge sicher positiver) ausgeprägt. Klar, nichts geht schneller, als eine neue Generation-Beschreibung in die Welt zu setzen. Eine Welt, in der fast alle öffentlichen Begriffe sowohl Werkzeuge als auch Waffen sind. Mit „Generation Corona“ bezwecke ich hier nur Anmerkungen zur Zeitdiagnostik in der viralen Epoche (noch so eine Behauptung).

Generationssemantiken sind so reizvoll wie umstritten. Weder zu belegen noch tot zu kriegen. Für mich gehören sie, ganz unbefangen, sowohl zur Lebenswirklichkeit als auch zu den sinnvollen Instrumenten der Interpretation von Wandel. Auch wenn Alterseffekte, Lebensphasen- und Milieuaspekte die Sache ziemlich komplizieren.

Was bringt das Denken an und in Generationen dann überhaupt? Als reine Etikettierung im Supermarkt der Aufmerksamkeit wenig Substanzielles. Wobei solche Formeln schon ein erstaunlich einflussreiches Eigenleben entwickeln können („Generation Golf“, „Generation Praktikum“). Sinnvoll eingesetzt, können wir aber einen Blick in die Zukunft wagen, um uns vielleicht auf eine Art Epochenwechsel einzustellen, Herausforderungen zu erkennen und Lösungsansätze zu benennen.

Im Zentrum des Generationenkonzeptes steht die „Theorie der Prägenden Ereignisse“ (von Karl Mannheim stammt sie, aber ich verzichte im Weiteren aber Belege. Sie sind schnell gegoogelt). Krieg ist der Klassiker („Lost Generation“ / World War 1). Nun muss sich der Ereignisbegriff sicher weiter gefasst werden, bis hin zu „Situation“ oder „Kontext“. Er ist also differenziert anzuwenden, denn selbst ein gemeinsam durchlittener Krieg trifft Menschen und Gruppen höchst unterschiedlich, über Jahre.

Digitalisierung ist ein prägendes Setting. Davon bin ich grundsätzlich überzeugt und untersuche seit einigen Jahren „Journalistengenerationen im Medienwandel“. Wer sich da allerdings tiefer hineinkniet, wird entdecken: Der digitale Wandel wirkt als ein kompliziertes Hin und Her von Innovation und Reproduktion. Mehr Prozess als Prägnanz.

Worauf es hinauslaufen könnte, habe ich hier in maximal halbseriöser Weise einmal dargestellt: „Generation Rezo“. „Generation Greta“ nimmt die Wucht des „Ereignisses“ Klimawandel breiter auf. Der zunehmende evidente und bedenklich Einfluss der Erderwärmung auf unser (Über-) Leben hat eine Dynamik in gesellschaftliche Entwicklung gebracht, die alle irgendwie spüren.

Der Coronavirus COVID-19 steigert die individuelle und kollektive Notwendigkeit, sich mit radikalen Veränderungen auseinanderzusetzen in grotesker Geschwindigkeit. Dabei lasse ich die Frage, ob da medienhysterische Anteile vorhanden sind, beiseite. Sicher ist dem so, aber das trägt für die kommunikative Wirkung wenig aus. Vor allem: Für die Beteiligten in Verantwortung ist die Grenze zwischen angemessener Behandlung und Überreaktion nicht mehr erkennbar. Schwer auszuhalten, aber die Regulierung von Ambivalenzen ist eine Hauptaufgabe des Menschen.

Was das Thema Coronavirus besonders heraushebt, ist dieser enorme Echtzeitdruck. Eine Katastrophe auf Speed. Unabhängig vom Ausgang dieses Krankheitsausbruchs, dürfte er verhaltensprägende Folgen auf vielen Ebenen haben. Damit meine ich Veränderungen der Haltung zum Reisen, zum Konsum. Oder beim Umgang mit Kommunikation. Aus der aktuell sorgenvollen Andacht könnte auf Dauer eine neue Achtsamkeit erwachsen.

Weil ich ein spezielles Milieu – Journalistenschüler/-innen – im digitalen Wandel untersuche, gehört auch Richard Gutjahr zu meinen Studienobjekten. In der Medienbranche eine vielbeachtete Größe, wenn es um derlei Diskussion geht. Er gilt innovationsfreudiger Journalist mit großem Gespür für Trends. Gerade hat er einen bemerkenswerten FB-Post veröffentlicht.

Meine (Über-) Interpretation geht so: Gutjahr macht da etwas sehr Typisches für generation building. Als exponierter Vertreter eines diskursprägenden Milieus ruft er einen Epochenwechsel aus und formuliert dazu den Haltungs-Anspruch an ein zeitgenössisches „Wir“. Ich bezeichne diesen Appel mal „kommunikative Achtsamkeit“ gegenüber Polarisierung in Zeiten existenzieller Probleme.

Lasst uns diese Zeit nutzen und auch im Netz mehr aufeinander achten. Die eigene Sprache und Lautstärke in den Kommentarspalten und auf Twitter runterregeln. Mehr zuhören, statt zutexten. Mehr Fragen stellen, als Antworten haben. Mehr Hygiene betreiben – online wie offline.

Dieser Haltungswechsel käme durchaus zur rechten Zeit, übrigens auch ohne Coronavirus. Nicht nur dem, der so intensiv Medienmetadebatten beobachtet wie ich, fällt auf: Das Ringen um Sagbarkeit und Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit wird immer unversöhnlicher. Politik sucht da intensiv nach Auswegen. Heute etwa  im Bundestag. Der Streit um die Veröffentlichung des Woody Allen-Buches bei Rowohlt oder der Frust über die Polittalkshows sind bemerkenswerte Belege aus der Medienbranche.

Nun weiß ich nicht, ob Gutjahr das allso so gemeint hat. Wenn aber ein prominenter „Kulturträger“ im aktuellen Debattenklima eine neue Achtsamkeit ausruft, dann könnte das mit ein Anstoß für eine künftige Generationenposition sein. Natürlich reicht dazu weder ein Post noch eine Person aus. Zumal Gutjahr kein junger Mann in „formativen Jahren“ ist (aber sicher in den besten).

Steigerungslogiken hinterfragen, auf die Nächsten achten, kommunikativ „runterkommen“. Bis zu einem Anders- und Umdenken, gar einer behutsamen „Generation Corona“ wäre es noch ein weiter Weg. Über den sowieso erst in Jahrzehnten zu urteilen wäre, wenn überhaupt. Viele junge Menschen müssten sich dazu bekennen – und genauso handeln. Und die anderen müssten das anerkennen und mitmachen.

Sollte das klappen, sollte tatsächlich irgendwann so etwas wie die Rückkehr zum menschlichen Maß im Miteinander gelingen, denn hätten wir in der Zukunft mindestens das, was der Soziologie Ulrich Beck mal so beschrieben hat: Lauter „positive Nebenfolgen negativer Ereignisse“.

Das ist alles nur eine Modellrechnung. Aber eine eher schöne.

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