Betrachten wir es mal zynisch: Wenn heutzutage Journalismus schon nichts bringt, dann kann er ja vielleicht wenigstens etwas verhindern. Etwa: Schock-Bilder von Geköpften und Gequälten wegfiltern. Denn über die neuen digitalen Netzwege schleusen gut gedrillte Propaganda-Kämpfer große Mengen abstoßendsten Inhalts auf unsere Time-Lines bei Facebook oder Twitter. Die neue Blut-Flut schürt eine überraschende Sehnsucht nach einem journalistischen Rollenmodell alter Schule: Schleusenwärter (Gatekeeper).
Dies klingt zynischer als ich es meine und ist jedenfalls meine Schlussfolgerung aus der kleinen, lebhaften Debatte in einer Google-Journalismus-Community. Mitglied Mock hatte seinen Post zur Diskussion gestellt, verbunden mit einer sehr naheliegenden Frage: „Wie damit umgehen?“ Nämlich mit der unvermittelten Härte expliziter Gewaltbilder, wie sie zum Beispiel das hochhippe Medien-Portal „Vice“ bewusst einsetzt. Ob nun zum Zwecke der Aufklärung oder eher im Sinne einer Aufmerksamkeitsökonomie, darüber lässt sich gut streiten.
Die aufschlussreiche Kommentar-Reaktion zeigt jedenfalls, dass das Thema nicht nur die Keynote-Cracks diverse Medienpanels bewegt, sondern wohl auch so manch(e) operativ tätigen Journalisten/in. Einige halten dabei an einer Verantwortungs-Ethik fest, die sich mal im Zulassen und mal im Weglassen von Gewaltdarstellungen ausdrückt. Je nach Kontext. In dieser Diskussion geht um so etwas wie einen neuen Lehrplan alter Schule. Mir ist die Debatte wichtig genug, um sie auch hier breit zu treten. Sie wird noch lange dauern.
Gewissensfrage für alle
Ob nun Internet-Euphoriker oder Skeptiker – mit der Frage quälen sich alle. Gehen zu viele Bilder über die Schmerzgrenze und wenn ja, ist das in Ordnung? Während beispielsweise im Ersten Deutschen Fernsehen bis 22 Uhr alle Filme „FSK 12“ gerecht programmiert werden müssen, haben sich im Internet manche Achtjährige schon mehr massakrierte Leichen optisch reingezogen als viele Gerichtsmediziner gegen Berufsende.
Andererseits: Wem fielen nicht sofort historisch bedeutsame, ja prägende Bilder ein, die ebenso grausam wie notwendig waren: Kolonial-Verbrechen, Konzentrationslager, Vietnamkriegs-Opfer. Das Brutale ist oft auch das Politische. Leider. Manchmal: Gott sei Dank.
Jetzt hat das World Wide Web endgültig die Schleusen für alle geöffnet – und die Bilderflut schwappt los.
Und nun?
Wenn professionelle Journalisten und etablierte Medien damit ihre Schlüsselstellung als Gatekeeper an der Schock-Schleuse verloren haben, dann müssen wir uns allerdings fragen, wer den Job stattdessen übernimmt. Falls wir nicht in gezielter Gewaltpropaganda absaufen wollen. Dabei auf die smarte Macht nüchterner Algorithmen oder die Weisheit der Vielen zu setzen, erscheint mir wie eine weitere Machbarkeitsphantasie von Cyber-Propheten.
Mindestens wäre ich mit Prognosen vorsichtiger. Auch das Internet führt uns nicht ans Ende der Geschichte, im guten wie im schlechten Sinne. Tyrannen und ihre Gegner werden ihre Strategien den Gegebenheiten anpassen. Dieser Prozess ist im Gange. Ausgang ungewiss. Vermutlich weiterhin unentschieden.
Die Rolle der Journalisten dabei? Sie haben (hatten) stets nur das vage Mandat, Inhalte für das Selbstgespräch der Gesellschaft bereitzustellen. Diese Arbeit setzt allerdings voraus, dass der publizistische Auftrag nicht irgendwann zurückgezogen wird (wurde?) und dass ihm gewisse Kriterien zugrunde liegen.
Post-Journalismus
Obwohl es für mich persönlich ein Tort ist: Wenn „den Journalisten“ der genannte Auftrag gekündigt wird, bzw. er sich überholt hat, dann ist er wohl erstmal weg. Und falls „die Menschen“ künftig (professionelle) Politik, (National-) Staat oder gar (repräsentative) Demokratie so nicht mehr wollen, werden sich selbst diese Prinzipien nicht dauerhaft halten lassen.
Die Kritik am real existierenden „Gatekeeper“-Journalismus oder übergriffigen Behörden ist in der Tat ja auch sehr substanziell. Gerade Edward Snowden und Co. haben wir hier viel zu verdanken. Allerdings mogeln sich viele Kritiker des Gegenwärtigen um eine entscheidende Pointe herum: Wie regeln wir das dann? Manchmal reicht es eben nicht, nur die Lösungen zu problematisieren. Irgendwann müssen wir uns den Problemen lösungsorientiert zuwenden.
An dieser Stelle reichen mir die wolkigen Hinweise auf eine netzneutrale, schwarmintelligente Zukunft eben nicht aus. Wenn wir einem großen Berg ungelöster Fragestellungen gegenüber stehen, so liegt das weniger daran, dass irgendwer „das Netz nicht verstanden“ hat. Sondern daran, dass die Entwicklung noch undurchschaubar ist. Also müssen wir doch noch genauer hingucken, was da läuft, möglicherweise auch schiefläuft.
Alte Regeln und alte Regler
Ein genauerer Blick nährt den Verdacht, dass sich Bilder durchaus nicht chaotisch-beliebig, sondern irgendwie „reguliert“ verbreiten. Allerdings entspricht dieses Gatekeeping weniger den bisherigen, wenn man so will, „analogen“ Regeln. In der Hybridwelt virtuell/real sind die Prinzipien, nach denen manche Fotos oder Videos sich weit verbreiten und andere weniger, nur mehr außerordentlich komplex. Chancengleichheit herrscht dabei höchstens theoretisch. Faktisch bleibt Informationsverbreitung eine Frage von Macht und Kompetenz. Die IS-Social Media-„Abteilung“ ist ganz offensichtlich finanziell und personell glänzend aufgestellt.
Schon jetzt dürften eine Reihe von „Master-Switches“, von herrschaftlichen Reglern bestehen, auf die die ökonomisch oder politisch Mächtigen im Zweifelsfall auch drücken. Das kann – wie beim Facebook Sozial-Experiment – mal die unbemerkte Zwangsbeglückung mit auschließlich positiven Posts sein – oder eine simple Blockade der technischen Struktur. Dann geht nix mehr. Zu letzterem dürfte nicht nur die chinesische Regierung in der Lage sein.
Journalisten können unter diesen Bedingungen nur mit angewandter Ethik im Berufsalltag werben. Und sie sollten in der Debatte um die mediale Zukunft aufzeigen, worum es bei der massenhaften Verbreitung von Bildern und Geschichten übers Netz geht, also was da auf dem Machtspiel steht. Am Ende winkt vielleicht ein erneuerter gesellschaftlicher Auftrag.
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