Yanis Varoufakis hat den Finger tief in die Wunde gesteckt. Und weil es dabei auch um die Auflösung medialer Wahrheit in der Flüssigen Moderne geht, bleibt andererseits die Frage offen: Welchen Finger und in welche Wunde? Hier nun meine These: Öffentlichkeit hat in diesen Zeiten ihr Erregungspotenzial kaum mehr im Griff. Gut zu wissen.
Am Ende dieser Woche voller Diskussionen über den Teil „Stinkefinger“ im Gastauftritt des griechischen Finanzministers bei „Günther Jauch“ steht fest: Die enormen Möglichkeiten des vernetzten Digitalzeitalters begünstigen das Bedürfnis nach Erregung in Echtzeit. Dabei ist es durchaus typisch, dass wir nicht mal wissen, worüber genau wir uns echauffieren. Restlos aufgeklärt ist Fingergate nicht. Unter anderem ein Verdienst des Comedian Jan Böhmermann.
Trotzdem wage ich, einen Punkt besonders zu betonen: Nicht böser politischer Wille oder reine journalistische Dummheit ist die Quelle der Aufregung, sondern die Eigenart von Hochfrequenzkommunikation im Zeitalter der Sofortness. Und beliebiger technischer Täuschungsmöglichkeiten. Welchen Anspruch können wir bei komplizierten Debatten wirklich unter den Bedingungen blitzschneller Über-Information noch stellen? An Redaktionen? An uns selbst?
Problem seit den alten Griechen
Nicht dass wir es etwa mit neuen Problemen der Medien zu tun hätten: Zitate werden stets aus Zusammenhängen gerissen, redaktionelle Eingriffe sind immer Akte der Manipulation, populistischer Journalismus ist häufig besonders populär, Politik lebt von öffentlicher Inszenierung. Mit jedem Akt setzen die Protagonisten ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel.
Medienbusiness as usual: Insofern ist die Sache mit dem Stinkefinger Teil einer stinknormalen politischen Auseinandersetzung. Bevor sich Merkel, Tsipras & Co irgendeinen Kompromiss zusammenmurmeln werden, kämpfen beide Seiten mit allen medialen Mitteln um ihre Positionen.
Dabei setzen die Griechen auf einen originellen Mix aus Argumentation und Provokation. Tsipras und Varoufakis kommen übrigens mit Medienlogik ganz gut klar. Sie erwischen ihre Gegner (Partner?) regelmäßig auf dem falschen Fuß. Deshalb darf man sie ruhig in Fernsehsendungen kritisieren und sogar mit alten Videos konfrontieren.
Und natürlich dürfen Menschen die ganz konventionelle Politiker-Reaktion von Varoufakis („War ich nicht.“) doof finden. Wie insgesamt auch das Zahlen-Versteckspiel der Regierung Tsipras und den Umstand, dass diese ein bisschen so tut, als wäre die griechische Gesellschaft jahrzehntelang ohne Mitwirkung der Bevölkerung organisiert worden.
Spiel mit der Glaubwürdigkeit
Man kann das natürlich ganz anders sehen, beispielsweise derartige Reaktionen als „ekligstes Fett Deutschlands“ kennzeichnen und sich beleidigt fühlende Deutsche als „Salon-Salafisten“ bezeichnen. Und für Medienkritiker wie Stefan Niggemeier bietet der Vorfall einen Anlaß, vor allem wegen des Grenzgangs der BILD, so zwischen Meinungsfreiheit und Volksverhetzung, mal wieder grundsätzlich journalistischen Glaubwürdigkeitsalarm zu geben.
Zudem hat die Regierung in Athen gute Begründungen, sowohl Europa als auch Deutschland nicht aus der Verantwortung für die Lösung von Problemen zu entlassen, die sich die Griechen wirklich nicht allein eingebrockt haben (können). Ihr Land ist klein und es geht seiner Bevölkerung größtenteils dreckig. Hilfe muss, Hilfe wird kommen. Hier steht die EU (inklusive Griechenland übrigens) vor einem Elchtest, bei dem die Vernunft nicht unter die Räder kommen darf. (Nun ist das Bild hoffentlich schief genug.)
Politisch regt mich der Mittelfinger nicht auf. Aber ebenso wenig kann ich all dem Gejammer darüber etwas abgewinnen, dass sich so viele so sehr für den medialen Mittelfinger interessieren. Denn sachlich aufschlussreiche Momente hatte selbst die Jauch-Sendung – unter anderem durch die Aussagen von Varoufakis. Wer sagt denn, dass ganz Deutschland und die Journalisten-Filterblase nur über das Varoufake nachdenkt?
Medienkompetenz für die Aufmerksamkeitsökonomie
Vorschlag zur Güte: Nehmen wir Fingergate doch einfach als sehr anschauliche Schulung im Fach Medienkompetenz: Der Professor für Ökonomie Varoufakis und der Profi der Aufmerksamkeitsökonomie Böhmermann haben uns über ein Grundgesetz von Auseinandersetzung auf öffentlichen Bühnen belehrt: In der zugespitzten gesellschaftlichen Kommunikation geht es vor allem um Effekte und Affekte. Fakten verwirren eher. Geben aber am Ende doch den Ausschlag.
An diesem noch einigermaßen harmlosen Beispiel haben wir jedenfalls deutlich erfahren, wie schnell und wie hoch sich die Erregungswellen in Echtzeit aufschaukeln. Wir müssen den digitalen Diskurs beherrschen lernen. Erster Schritt : Sich seiner Regeln bewusst zu werden. Sich anregen, aber nicht aufregen lassen.
Dieser Fingerzeig ist doch nicht von der Hand zu weisen. Dafür efcharisto allerseits!
[…] erinnern uns an Stinkefingergate bei der Diskussion mit Griechenlands Ex-Finanzminsiter Yanis Varoufakis. Die letzten beiden […]