Erfahrungsschatz eines Piraten

Piraten: Der erste Versuch ging ins Auge (Remix: Radek Czajkas / CC-BY 2.0)

Piraten: Der erste Versuch ging ins Auge (Remix: Radek Czajkas / CC-BY 2.0)

Brexit, Putsch-It, Exit – kommen wir etwa vor lauter Erleben gar nicht mehr zum Lernen aus der Geschichte? Das wäre schade, sogar gefährlich. Während in diesen Tagen überwältigende Ereignisse unsere Lebens-Timeline füllen, sollten wir uns Echtzeit für aufschlussreiche Rückblicke nehmen. Piraten-Geschichten eignen sich da besonders gut. Hier kommt eine.

„Therapie-Buch“ – so nennt Daniel Schwerd, Abgeordneter im nordrhein-westfälischen Landtag (früher Piratenpartei, jetzt Die Linke) seinen Erlebnisbericht. Einst ging der Informatiker und Internet-Unternehmer mit den Piraten auf große Polit-Fahrt. Nun erklärt er sich und uns in „Politik aus Notwehr“ den Schiffbruch. Dieser Trip lohnt sich für alle am Medienwandel Interessierten.

Denn es handelt sich um weit mehr als den Rache-Reißer eines Aussteigers. Tatsächlich gehört dieses Buch in eine Reihe von wichtigen Insider-Texten, die uns Altmediale weniger über die Netzwelt belehren als vielmehr aufklären. Und zwar mit einem nüchternen Blick auf die eigenen Fehler der Vergangenheit.

Logbuch

Lesenswert ist das Buch von Daniel Schwerd nicht nur, weil es flüssig, pointiert geschrieben daherkommt. Kurz und klar kann er ja, denn so hat er sich als @netnrd eine beachtliche Follower-Schar zusammengewittert. Typisch Pirat. Micro-Blogging war eine der schärsten Waffen der Bewegung.

Vor allem beeindruckt aber die persönlich gelebte – sicher auch: gefilterte –  Geschichte der Piratenpartei, erzählt aus der Sicht eines Besatzungsmitglieds. Sie beginnt mit den überraschend erfolgreichen Kaper-Fahrten ab 2009 und endet mit dem Untergang in die heutige Bedeutungslosigkeit.

So kann Schwerd einen wirklich wertvollen Erfahrungsschatz heben. Denn das Polit-Experiment Piratenpartei gehört zu den Schlüssel-Momenten der Parteienlandschaft, nicht nur hierzulande. Immerhin hat(te) diese Bewegung digitaler Freibeuter das Potenzial, den Horizont der Demokratie in die Netzwelt zu erweitern. Sie steht gleichzeitig für den Aufbruch zu neuen Ufern, begonnen von einer Generation, die sich nicht unbedingt nach dem Alter, sondern durch die Hoffnung auf Freiheit durch Vernetzung definiert.

Gehen wir also auf Zeitreise in die jüngere politische Vergangenheit: Daniel Schwerd beginnt jedes einzelne Kapitel mit einer Abstands-Metapher, einer kurzen Szene aus dem Offline-Idyll, das der Autor auf einem Berg in Umbrien gefunden zu haben scheint. Anschließend schreibt er sich dann ein weiteres Jahr Piratenpartei von der Seele.

Feindfahrt

Selbst wenn man ihm inhaltlich („linksliberal“) weder politisch noch in jedes Detail priratesker Verschrobenheit folgen möchte – was Schwerd sehr nachvollziehbar beschreibt, das ist eine gigantische Kleinteiligkeit. Letztlich  schildert er die Flucht von Polit-Neulingen – heraus aus gesellschaftlicher Verantwortung und hinein ins bürokratische Detail.

Große rhetorische Schlachten werden da um die Fraktions-Kaffeemaschine geführt, lange Versöhnungs-Versuche im Kerschenbroicher Kuschelkreis zelebriert, Funktionsträger auf Parteitagen peinlich-persönlich „gegrillt“.

Wenn dies nur Anekdoten aus der Anfangszeit wären, könnte ein Schwerd das vielleicht noch verschmerzen. Aber für ihn steht fest: Die Piraten haben die Pest Bord: Viele der Mitstreiter seien technokratisch und misstrauisch, latent antisemitisch und frauenfeindlich. Und was das Schlimmste sei: unpolitisch. Denn es fehle Ihnen ein Wertesystem. So weit, so hart.

Am Ende spricht Schwerd von einer „Partei-Simulation“. Obwohl die Piraten doch ihre Kernkompetenz für den Umbau des Gemeinwesens zur digitale Gesellschaft hätten ausspielen können. Für den Netz-Aktivisten der ersten Stunden ist die Antwort auf die Frage warum die Piratenpartei – trotz des thematischen Rückenwinds – nicht vom Fleck kam, so einfach wie frustrierend:

Die Ideen, die Ideale, für die die Piraten standen, mit denen sie gestartet sind, wurden aus meiner Sicht verraten. Und was mich besonders erschreckt in der Rückschau, ist der Grund dieses Verrates: Es gibt keinen.

Die Piraten haben den Kahn einfach auf Grund gesetzt, weil sie zu verpeilt waren. Weil sie ihre Fähigkeiten über- und die Aufgabe unterschätzt haben. Politik machen bedeutet mehr als der Demokratie mal eben ein Update aufzuspielen.

Kurskorrektur

2015 ist Daniel Schwerd schließlich aus der Partei ausgeschieden. Parlamentarisch weitermachen wollte er aber. Dem eigenen politischen Kurs folgend, hat er nun bei den Linken angeheuert.

Texte wie der von Schwerd vermitteln sehr unmittelbar die Schwierigkeit, moderne Politik in einer vernetzten Gesellschaft zu betreiben. Mit dem System gegen das System. Redlich und rebellisch. Verlässlich und widerständig. Das bleibt heikel.

Zu den gewagtesten Vergleichen im Buch gehört denn auch der zwischen Piratenpartei und AfD. Was beide Beispiele – bei aller Unterschiedlichkeit in der politischen Aussage – aber tatsächlich lehren: Bewegung ist noch kein Ziel.  Ob Politik tatsächlich ein sinnloses oder schmutziges Geschäft ist, das entscheiden Protagonisten und Publikum letztlich selbst.

Internet-Ausleger Sascha Lobo hat mit dem Ex-Piraten-Promi Christoph Lauer bereits 2014 einen Havarie-Bericht vorgelegt. Persönliche und pessimistische Perspektive darin ähneln durchaus den Befunden von Daniel Schwerd. Der allerdings geht erheblich weiter über eine rhetorisch wertvolle Vergangenheitsbewältigung hinaus und steuert Richtung Zukunft.

Dazu beschreibt Schwerd am Ende seines Buches neun knackige Lehren aus dem vorläufig gescheiterten Experiment. These acht hat mich besonders überrascht: „Schwarmintelligenz gibt´s nicht.“ Selbst denken und Verantwortung übernehmen statt sich auf sich selbst regulierende Organisationen verlassen. Haltung statt Hybris.

Natürlich ließe sich „Politik aus Notwehr“ als Steinbruch nutzen, um dort Argumente für die Legende von den naiven Nerds abzuklopfen. Richtig produktiv wird die Lektüre aber erst jenseits des Mokanten. Dort wo wir vor der Aufgabe stehen, an unserer kollektiven Medienkompetenz zu arbeiten. Denn das Problem, für das die Piratenpartei möglicherweise die falsche Lösung war, bleibt.

„Das Erbe der Piratenpartei“, von dem Daniel Schwerd im Untertitel seines Buches spricht, könnten und sollten wir alle antreten. Oder um dem Ex-Piraten und Neu-Linken das Schlusswort zu überlassen:

Denn eigentlich braucht es Visionen, es braucht eine positive Idee von der Gesellschaft, in der wir in Zukunft leben wollen, in der unsere Kinder aufwachsen werden. Politiker sollten Visionen haben, alles andere wäre Verwaltung.

 

Kommentare

  1. Gernot Köpke meint:

    Und wieder einer dieser Rechtfertigungsversuche. „Schuld“ sind immer nur „die Anderen“. Genügt es nicht zu sagen, man hat sich von einem anders vermuteten/erhofften/erträumten Mehrheitswillen wegentwickelt und durch eine andere Gewichtung von Themen zu einer anderen Partei hin bewegt, sicher auch, weil man durch Umsatteln gerne wieder in ein Parlament einziehen will…

    • Sicher, es ist eine Trennungs-Story. Da verschwimmen die Grenzen zwischen Rechenschaft und Rechtfertigung, Ursache und Schuld. Was verantworte ich selbst, was messe ich anderen zu? Schwerd nennt seinen Text treffenderweise ein „Therapie-Buch“. Insofern geht es nicht nur ums Beschreiben (Autor), sondern auch ums Auffassen (Leser) solcher Geschichten. Mir hat „Politik aus Notwehr“ einen Zugang auf die Entwicklung der Piratenpartei verschafft, einen spezifischen Blickwinkel eröffnet. Das Ganze ließe sich bestimmt noch vielfach anders erzählen. Hauptsache, es gerät nicht so schnell in Vergessenheit.

Deine Meinung ist uns wichtig

*