Jedem Ende wohnt wohl ein Zauber inne. Digitale Vordenker „disrupten“ ja gern schwungvoll alles Bisherige. Nun verkündet„Meta“, das neue Buch des Journalisten und Social Media-Experten Dirk von Gehlen, im Untertitel „Das Ende des Durchschnitts“. Gekonnt, aber zu früh.
Es ist auf alle Fälle eine anregende Schrift ( Präsentation und Podcast, denn „DvG“ experimentiert gern mit Kultur als Software), unter anderem weil der Autor mit seinem sachlichen Ton zu den unaufgeregten Stimmen im Zukunftsdiskurs gehört. Ich erlebe ihn seit Jahren als offenen Gesprächspartner und als lohnendes Studienobjekt für meine Forschung zum Rollenwandel im Journalismus.
Datennutz für den Kontext-König Kunde
Von Gehlen unterscheidet sich von vielen 4.0-Evangelikalen, die uns das Internet ständig als Befreiungstheologie predigen. Und jeden Netz-Skeptiker entweder als unterversorgt oder minderbemittelt abkanzeln. Stattdessen wählt der durchaus internetgläubige DvG einen werbenden Weg. Seine Haltung nennt er „Kulturpragmatismus“. Ihm geht es dabei um die Chancen einer friedlichen Nutzung der Datenenergie:
Um Medien im digitalen Raum zu verstehen, sollten wir den Blick auf diese beiden Begriffe richten, die neu entstehen: Metadaten und Kontext. Sie sind sozusagen der Schatten des reinen Inhalts, sie geben ihm Wert und Rahmen und fordern uns zu dem heraus, was ich „das Ende des Durchschnitts“ nenne.
Für die Bewohnter der neuen Netzwelt hat das Zusammenwirken von Metadaten und Kontext den Vorteil, dass sie nicht mehr als Massenware auf der Basis von Mittelmaß versorgt werden. Sondern individuell nach ihren aktuellen Bedürfnissen bedient.
Das Ende des Durchschnitts beschreibt den Wandel von der Mainstream-Kultur in die Kontext-Kultur.
Unter „Kontext“ versteht der Autor vor allem die Situation der Nutzerinnen und Nutzer. Bei ihnen entstehe nunmehr der persönlich zugeschnittene Inhalt. Dann liest der Fan des FC Bayern einen anderen Text als der von Borussia Dortmund, obwohl es dasselbe Spiel und das gleiche Medium ist. Kontext-König Kunde.
Medien in offener Publikumsbeziehung
Für die Medienbranche hat diese Produktionsform natürlich ebenfalls Konsequenzen, ziemlich heftige sogar: Effektiv individualisierte Inhalte produzieren, das können künftig zunehmend auch Roboter. Journalisten müssten sich dagegen auf ganz neue Weise „Salon“ fähig machen:
Journalisten und Medienschaffende werden in diesen Räumen zu Gastgebern, die (…) nicht mehr nur über ihre Werke, sondern vor allem über das Netzwerk der Anwesenden Werte schaffen.
Eine offene Publikumsbeziehung, die Hinwendung zum Nutzer/innen-Bedürfnis, das ist sowieso ein roter Faden im Denken des Social-Media-Spezialisten von Gehlen. Für sein Buch hat er dazu allerlei Experten/innen per Interview in den Zeugenstand gerufen. Car-Sharing-Startupper, Audiostreaming-Dienstleister oder Medien-Ethiker. Alle werben für das Aneignen der Instrumente des digitalen Wandels, um die, nun ja, alternativlose totale Vernetzung gestalten zu können.
Den Lohn dieses Urvertrauens beschreibt Stefan Zilch, Geschäftsführer von Spotify-Deutschland zum Beispiel so:
Die Vision ist: „Das ist der Play-Buttion. Klick drauf, und wir spielen Dir die Musik, die jetzt gerade die beste für die ist.“
Ob ich mich als Kunde des Audio-Streamingdienstes befreit oder bemuttert fühle, souverän oder gelenkt, wenn aus dieser Vision datengestützte Wirklichkeit geworden ist, darüber ließe sich streiten. Aber wir künftigen Netzbürger sollten zumindest verstanden haben, worum es in der Welt morgen geht: um uns, die optimiert versorgten, möglichst medienkompetenten Individuen.
Damit dies möglich wird, muss der Nutzer selber datensouverän werden. Er muss – vermutlich auch technisch – die Hoheit über seine Daten zurückerobern.
Ja zum Prinzip Hoffnung
Frag sich sicher, wie. Dafür liefert von Gehlen eher Ansätze, wie die „Zweckbindung im Datenschutz“, bei der die User ihre Daten immer nur punktuell und kontextbezogen weitergeben sollen. Praktisch sind solche Überlegungen noch im Versuchsstadium. Grundsätzlich regiert bei DvG das Prinzip Hoffnung.
„Meta“ ist ein stets journalistisches, oft sehr zugespitztes und manchmal ein arg optimistisches Buch. Dabei kommt es ohne Vergröberungen und Spekulationen nicht aus, um sich von den vielen realen Abgründen fernzuhalten, die beispielsweise zwischen Datennutz und Datenschutz tatsächlich klaffen.
Das kann man kritisieren. Ich finde es enorm hilfreich, gerade weil einem ältlichen Struktur-Skeptiker wie mir auf jeder Seite so viele Fragen kommen. Es ist eine Verführung zum Verständnis und zur kritischen Auseinandersetzung.
Auf jeden Fall bewegt DvG sich auf einer wichtigen Diskussionslinie der Zeit: die umfassende Medialisierung des Alltags jedes Einzelnen. Wer das wissenschaftlich verspulter möchte, der mag Werke von Felix Stalder (Kultur der Digitalität) oder Roberto Simanowski (Data Love) lesen, auf die Früchte kommunikationswissenschaftlicher Ambition in „datengetriebenen Zeiten“ warten oder auf das Buch des Kultursoziologen Andreas Reckwitz zum Siegeszug der „Singularitäten“.
Sicher, „Meta“ ist der Entlastungsangriff eines Netz-Optimisten angesichts vieler Alarmbotschaften. Parteiisch, aber nicht unversöhnlich. Dieser Ansatz für die Aushandlung der Zukunft gefällt mir, wie gesagt. Trotzdem jetzt noch ein bisschen „Aber…“:
3 Mal „Aber …“
Erstens geht die Gleichung „Mainstream = Durchschnitt = Überholt“ für mich grundsätzlich nicht auf. Dafür bin ich wohl selbst zu gestrig. Zudem hängt mir als Mann des Mittelmaßes an der gängigen Mainstream-Ächtung zu viel feuilletonistischer Habitus. Die feinen Unterschiede regeln nicht alles.
So lesenswert unaufgeregt und anregend das Buch von DvG, zweitens, auch ist – „Meta“ bewegt sich wie alle Stiftungsliteratur des Internet-Optimismus innerhalb einer problematisch Setzung a priori: Die Vorstellung von einem vernetzten End-Zeitalter, beruhend auf der prinzipiellen Lösbarkeit unserer Probleme durchs Digitale. Oder um es mit dem anstrengenden Netzkritikers Evgeny Morozow auszudrücken: „Solutionism“ und „Exceptionalism“ – Lösungs-Fixiertheit und Netz-Zentriertheit.
Dieser gedankliche Ansatz vernachlässigt – drittens – die schwer aushaltbare Grundbedingung unserer sozialen Existenz: Wir geraten nach aller Erfahrung eben nicht irgendwann in einen idealen oder dystopischen Endzustand, sondern vermögen uns wohl nur in paradoxalen Etappen zu bewegen, in Spiralen sich erneuernder Wiederholungen. Einfach ausgedrückt.
Entwicklung ohne Ende
Ende des Durchschnitts? Granular gedacht und statistisch betrachtet, erscheint das ja durchaus plausbel. Denn in der binären 0/1- und Ja/Nein-Logik des Digitalen ist die Rechenoperation des arithmetischen Mittels gar nicht erlaubt.
Andererseits – so paradox sind die Verhältnisse nun mal – erleben wir doch derzeit nahezu eine Machtübernahme des Mathematischen in der Gesellschaft. Nach dem legendären Glaubenssatz der Management-Lehre:
Was man nicht messen kann, kann man nicht managen.
Die berühmt-berüchtigten Algorithmen sind ja nichts anderes als operative Formeln, Anweisungen in der Sprache der Berechnung. Künftig wird möglicherweise die Bedeutung des groben Durchschnitts ja tatsächlich abenehmen, die rechnerische Betrachtung der Gesellschaft insgesamt sicher nicht. Diese wird immer feiner und immer kleinteiliger , aber ohne Abstraktion nicht auskommen.
Deshalb sehe ich unsere Gesellschaft weniger am Ende des Durchschnitts, wie der Untertitel von „Meta“ behauptet, sondern vielmehr: am Ende des Durchblicks. Eine brandneue Unübersichtlichkeit, deren Folgen für politische Öffentlichkeit wir gerade erst zu diskutieren beginnen.
Das Meta-Werk von DvG unternimmt hierzu einen richtigen Versuch und ist daher ein wichtiges Buch. Es kühlt hitzige Mediendebatten so angenehm herunter, dass man ihm die Endzeitrhetorik verzeiht. Ohne Abgesang gibt es heutzutage kaum noch Aufmerksamkeit. Alarmismus und Utopien gehören zum gesellschaftlichen Spiel der wiederholten Erneuerung.
Denn wir brauchen anscheinend existenzielle Herausforderungen um der tödlichen Langeweile zu entgehen. Deshalb suchen wir nach Irritationen, die wir beseitigen können. Aber sobald wir Lösungen haben, beginnen uns die Probleme zu fehlen Norbert Bolz hat das gerade in einem wunderbaren Essay beschrieben.
So entwickeln wir uns im dynamischen Ringen zwischen Freiheit und Sicherheit, das allerdings kaum jemals enden kann. Deshalb werden wir die Fahrt Richtung Zukunft wohl mit angezogener Handbremse fortsetzen. Eine iterative Fahrt – für die Forschen zu lahm, für die Bewahrer zu schnell. In jedem Fall gibt es keine Endstation. Nicht für den Journalismus und auch nicht für den Durchschnitt.
Was ich nicht schlimm finde: Keiner kann schließlich die Zukunft kennen oder programmieren. Und es würde die Bedeutung des digitalen Wandels keineswegs schmälern, wenn wir ihn etwas entmystifizieren würden. Wenn wir hinnähmen, dass er nichts wirklich Neues bringt, aber das Bisherige gewaltig vergrößert und beschleunigt.
Tja, aber attraktiver ist ein Neuanfang natürlich immer, gerade weil ihm ein überdurchschnittlicher Zauber innewohnt.
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