Digitaler Wandel durch Annäherung

Vielleicht stoße ich ja immer nur an die Wände meiner Filter-Bubble. Aber je mehr ich im wunderbar wirren Internet herum irre, umso weniger  bekomme ich eingie pochende Fragen  aus dem Kopf: Warum drehen sich die Debatten um die Zukunft der Medien immer im Kreis? Und weshalb interessiert sich die Gesellschaft offenkundig so wenig für das Thema? Gibt es da vielleicht gar einen Zusammenhang? Darüber haben natürlich schon einige Digital-Diskutanten nachgedacht. Und sind dabei zu verblüffend einfachen Antworten gelangt: Schuld haben immer die anderen!

Denn das beste Erklärungsmodell für Probleme ist die Schuldzuweisung. Ein grell gemaltes Feindbild sichert Deutungshoheit und bringt die eigenen argumentativen Geschütze besser in Stellung. Am besten zeigt man auf Personen, ersatzweise gehen aber auch Gruppen oder Institutionen ganz gut.

Ein typischer Tag liefe dann etwa so: Zum Frühstück ein paar Bedenkenträger fressen, den Tag über jede Menge alte Zöpfe abschneiden. Beim Nachtgebet schließlich der nächsten Generation den Himmel auf Erden versprechen (wenn sie sich nicht blöd anstellen, beispielsweise zögerlich oder technophob). Ach was waren wir heute wieder disruptiv! Ein schönes Beispiel für diesen Hurra-Patriotismus aus Digitalien habe ich hier gefunden.

Aufmerksamen Lesern wird nun aufgefallen sein: Im soeben fertig gestellten Absatz habe ich genau das getan, was ich zuvor in offenbar scheinheiliger Weise kritisert hatte: Nämlich eine Seite zu verteufeln, in diesem Fall die der Online-Optimisten.

Das war auch kein Zufall. Bei der Grandwanderung in die digitale Zukunft stürzen die Menschen, je nach eigener Disposition, mal eher auf die eine oder eher auf die andere Seite ab. Wenn ich beispielsweise falle, rutsche ich stets den Anhang der Sorgen herunter. Unten angekommen, denke ich dann: „Früher war doch alles besser, vor allem ich.“

Andererseits will ich gern an dieser Stelle versichern, dass man bei aller Fortschrittsskeptik  keinesfalls die Jugend zum Problemfall, Google zu einer Terrorvereinigung und die Nachkriegsmedienordnung zum Weltkulturerbe erklären sollte. Warum dann immer wieder dieser ideologische Streit, der Branchentreffs so vorhersehbar öde macht? Tja, offensichtlich kann man es sich selbst im Schützengraben gemütlich machen. Das Feindbild ist klar, die Kameradschaft der Gleichgesinnten stärkt die eigenen Kräfte. Und man will ja auch gewinnen.

Weniger militaristisch ausgedrückt: Differenzieren gilt den meisten als doof, mindestens als zu umständlich. Wer sich als Medienversteher und – Erklärer profilieren möchte, darf natürlich nicht einräumen, dass vielleicht auch an den Argumenten der anderen Seite etwas dran sein könnte. Wer die Zukunft gewinnen will,  möchte ungern Zeit mit Kompromissen vertrödeln.

Trotzdem lohnt sich die Anstrengung. Dazu empfehle ich ein Vorgehen, das schon Eiserne Vorhänge zerrissen und Mauern mit zum Einsturz gebracht hat: „Wandel durch Annäherung“. Dieses weise politische Prinzip bleibt mit Egon Bahr und der von ihm wesentlich mit gestalteten Ostpolitik verknüpft. Es ist genau 50 Jahre alt und doch hochmodern.

Würden wir es mehr auf den Digitalen Wandel anwenden, könnten wir vom Stadium der Schuldzuweisung zur Ursachenforschung übergehen. Das ist nämlich ein Unterschied. Wir könnten zu ermitteln versuchen, wie globale Politik, Wirtschaft und Technik nach menschlichem Maß entwickelt werden können.

Sicher, Mindesstlöhne für die Arbeitswelt lassen sich erheblich leichter kommunizieren als Mindesstandards für  Datenschutz im Cyberspace. Trotzdem ist es höchste Zeit, den Streit um des Profils und Profit willens zu beenden. Daher ergeht an dieser Stelle der offizielle Aufruf zum „Digitalen Wandel durch Annäherung“. So, der Anfang ist gemacht.

Deine Meinung ist uns wichtig

*