Das Wesen von Thesen

Quelle: www.sebastian-langer.net

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Wohl alles hat seine guten und seine schlechten Seiten: Der Alkohol, das Essen, die Frauen, die Männer, das Leben. Vor allem aber: Das Aufstellen von Thesen zur Zukunft des Journalismus.  Weil es gerade derzeit so viele davon gibt,lohnt sich vielleicht eine Umkehr der Blickrichtung. Betrachten wir einmal das Wesen von Thesen. Und lernen wir Gelassenheit.

Um diese Jahreszeit vor nun bald 500 Jahren hat Martin Luther neue Thesen zur alten Kirche an eine ihrer Türen genagelt. Anschlagen, was einschlägt – das wurde zum Stil bildenden Vorgehen für moderne Kommunikation. Man braucht ein wichtiges Problem, überforderte Institutionen und außerdem sollte die Zeit reif sein für eine Entscheidung. Auf Griechisch: Krisis. „Krise des Journalismus“ zum Beispiel. Ein Dauerbrenner besonders in diesem Jahr.

„Die 7 Tibeter für jeden modernen Journalisten“ von Karsten Lohmeyer in seinem Blog „Lousy Pennies“ lassen den Journalismus zunächst einmal niedergehen, um ihn im Internet gleich wieder auferstehen zu lassen. Die Empfehlungen an Kolleginnen und Kollegen in Existenzsorge ergeben insgesamt  eine  amüsant geschriebene Mischung der Ideen von Dalai Lama und Charles Darwin.

Große Beachtung finden aktuell die Champions-League-Transfers von Spitzen-Reportern wie Glenn Greenwald zu Digital-Unternehmen wie dem des eBay-Gründers Pierre Omidyar. „Bye, Bye traditional media, hello next big journalism thing!” titelt dazu der Blogger Martin Giesler. Tenor: Die klassischen Medien gehen unter. Technik-Unternehmen mit angeschlossenem Content beginnen ihren Platz einzunehmen.

Das sind zweifellos hochinteressante Entwicklungen. Vielleicht entsteht daraus tatsächlich ein Kunden zentrierter und Nutzer aktivierender Journalismus, wie Dirk von Gehlen vermutet. Aber setzen diese Experimente wirklich voraus, dass der gegenwärtige Journalismus „korrupt“ sei (Greenwald) oder dass „traditionelle Medienhäuser oftmals zu langsam und behäbig performen“, um Talente zu halten (Giesler)? Da kommen wir doch nahe an die Theseritis, einfacher ausgedrückt: Übertreibung.

Ein vielleicht beruhigender Vergleich. Als in den 80er Jahren der Privatfunk in Deutschland aufkam, wechselten die Top-Stürmer der etablierten Medien zu den neuen Anbietern. In eine strahlende publizistische Zukunft, gut bezahlt und voller Gestaltungsmöglichkeiten. Der Untergang der anderen, beispielsweise der Öffentlich-Rechtlichen, sei nur noch eine Frage der Zeit. 30 Jahre ist das  nun her.

Leider ist Differenzierung nun mal der Todfeind jeder knackigen These. Und vermutlich auch der Killer allen Bemühens um Aufmerksamkeit. Obwohl doch Jochen Wegner von Zeit-Online feststellt:  „Alle Thesen im digitalen Journalismus sind falsch.“ Gut, man ahnt es schon – natürlich ist auch diese Behauptung unzutreffend. Sie leidet am gleichen Symptom wie alle anderen Thesen zum Medienwandel: Sie haben stets eine begrenzte Reichweite und eine begrenzte Lebensdauer. Sie stimmen immer nur „ein Stück weit“.

Recht hatte insofern der alte Brecht mit seinem Gedicht „Die neuen Zeitalter“:

Die neuen Zeitalter beginnen nicht auf einmal.

Mein Großvater lebte schon in der neuen Zeit

Mein Enkel wird wohl noch in der alten leben

Für die Diskussion der Gegenwart wäre daraus eine kluge Konsequenz möglich, nämlich der Verzicht auf Rechthaberei.  Fehlbarkeit akzeptieren kann beispielsweise heißen, die vermeintlichen Fortschrittshemmer nie mehr zu Trotteln zu erklären. Nicht immer wieder die Gegenwart in Trümmer zu schlagen, um darauf die Zukunft aufbauen zu wollen. Wie wars?

Da sind wir auch beim Unterschied zu Luther. Der hat eine Reform(ation) eingeleitet. Umfassend zwar, auch brutal in manchen Weiterung. Aber wir begreifen sie heute als eine Entwicklung, die die Geschichte verändert hat, nicht beendet. Im Digitalen Wandel wird der Anspruch schnell totalitär, geht es  immer gleich um Revolution, beziehungsweise um ihre betriebswirtschaftlich-technokratische Schwester, das „Disruptive“.

Es ist möglicherweise etwas überinterpretiert, wenn ich hier nochmal  Berthold Brecht als Korrektiv für allzu steile Thesen zum Journalismus anführe. Aber ich will trotzdem den Schluss des Gedichtes  von den neuen Zeitaltern nicht  verschweigen:

Von den neuen Antennen kamen die alten Dummheiten.

Die Weisheit wurde von Mund zu Mund weitergeben

P.S.: Und jetzt, am 6.11., ein Nachtrag, der fast alles sagt. „Eine These zum Journalismus: Es gibt schon genug Thesen zum Journalismus“.

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