Corona: Kampf ums Wahrheitsregime

So true … (Wikimedia / CC BY-SA 4.0)

Verschwörung und Empörung. Auf allen Kanälen schrillen Alarmsirenen, die niemand abstellen kann. Der seltsame Sound gehört zur Inszenierung „Kampf um das Wahrheitsregime“. Journalismus spielt darin eine Doppelrolle.

Uptdate 2.6.2020: Zu Recht kritisiert Youtuber Rezo, daß Überschriften zu hochproblematischen Missverständnissen führen können. Es sei denn, es sind seine eigenen: Rezos neuestes Video heißt zwar „Zerstörung der Presse“, thematisiert aber eigentlich konstruktive Mainstreammedienkritik. Es fordert vom „etablierten seriösen“ Journalismus bessere Qualitätsicherung, mehr Transparenz und klare Abgrenzung von problematischen Praktiken und Protagonisten. Check.

Zwar ist über Fehlentwicklungen im Journalismus schon seit Langem alles gesagt – aber eben noch nicht von Rezo. Sein Appell „Verkackt es nicht“ zeigt, wo es ziemlich wahrscheinlich langgehen wird: In der digitalen und polarisierten Geselllschaft nach Corona wird sich professioneller Journalismus stärker positionieren und gleichzeitig härter um den eigenen Status kämpfen müssen. Gefordert wäre quasi wissenschaftliche Beweisführung – sowohl als inhaltliches Fundament als auch zur eigenen Rechtfertigung.

Dieser künftige Mainstream wird aber auf heftige Gegenwehr stoßen. Der Kampf um das Wahrheitsregime dürfte zu Debatten über eine intesive regulierte Öffentlichkeit führen. Qualität und Kontrolle sind die Stichworte: Journalistische Haltung wird zu einem entscheidenden Thema für die Gesellschaft.

In meinem Text geht es  jetzt nicht darum zu klären, was beim Thema Corona Sache ist. „Dirk Hansen 5.0“ denkt hier sehr mainstream, hält sich an die Maßnahmen. Es wäre aber langweilig, in den Chor der Selbstvergewisserung des medialen Milieus einzustimmen. Oder mich pointenreich über Verschwörungs-Verschwurbler zu mokieren.

Hier bleibt Medienmeta das Thema. Blog und Blogger beobachten den Journalismus als Verhandlungssache der Gesellschaft. Die Kommunikationswissenschaftler Thomas Hanitzsch et al. sprechen von einer „diskursiven Institution“:

Journalismus als Institution existiert, weil und indem wir über ihn sprechen.1

Im Hintergrund dieser schönen Formulierung schwebt ein Begriff, den der französische Denker Michel Foucault geprägt hat und für den dieser Textes sensibilisieren will: „Wahrheitsregime“. In diesem Regime wird nicht etwa festgelegt, was inhaltlich zutreffend ist, sondern nach welchen Regeln eine verbindliche soziale Wirklichkeit überhaupt erzeugt wird. Und von wem.

Im Grunde kommt es auf die journalistischer Haltung im Medienwandel an. Wobei ich unter Haltung nicht die richtige Gesinnung verstehe, sondern einen Handlungsmodus. Eine Verbindung aus individuellem Können und gesellschaftlicher Anerkennung, mit der sich mediale Realität herstellen lässt.

In der Coronakrise spitzt sich die Entwicklung auch metamedial zu:

  1. Corona hat das Mediensystem in einen Ausnahmezustand versetzt:Machtfragen werden neu entschieden und offen ausgetragen.
  2. Die Doppelrolle der Journalist/-innen wird dabei transparenter: Ihre Arbeit dient der gesellschaftlichen Kommunikation und gleichzeitig der Selbstverteidigung eigener Definitionshoheit.
  3. Weil externe und interne Konkurrenten ständig Zweifel an ihrer selbstverständlichen Autorität säen, müssen Journalist/-innen derzeit offensiv ums Wahrheitsregime kämpfen.
  4. In diesem Ringen ums öffentliche Reden lassen sich zwei Grundformen etablierten journalistischen Handelns beobachten: Therapieren und Reparieren sowie Negieren und Separieren
  5. Auf absehbare Zeit wird sich als Mischform etablieren: Kontrollieren und argumentieren. Wie auch immer die herrschende Meinung aussehen wird, es dürfte sich um eine stärker  regulierte Öffentlichkeit handeln.

Die Kernthese:

Nach Corona wird Journalismus kämpferischer – thematisch und in eigener Sache.

Wenn ich gleich die systemkritische Konkurrenz um die Wirklichkeitskonstruktion beschreibe, dann behandle ich  sie nüchtern als das, was sie ist: Ein Wettbewerber bei der Aushandlung von Öffentlichkeit. Auch halte ich nicht alle „Systemskeptiker“ oder ihre Sympatisanten für irre Böse oder vernachlässigbar Wenige. Womit ich  aber keineswegs Aluhut- und Grimmepreisträger gleichsetzen möchte (false balance).

Ausnahmezustand

Normalerweise läuft Debatte über die Regeln des Redens parallel und verdeckt mit, wenn öffentlich verhandelt wird. Aber in den letzten Jahren hat sich ein offen ausgetragener, immer aggressiverer Machtkampf um Definitionshoheit entwickelt. Derzeit etwa elektrisiert ein Konflikt zwischen dem Virologen Christian Drosten und der BILD die öffentliche Kommunikation. Einmal mehr wird ungeheure Dichotom-Energie frei. Bis die Diskurssicherungen durchbrennen. Fürs Detail sei diese Analyse von Andrej Rejsin ausdrücklich empfohlen, weil sie auch journalistischen Bias untersucht.

Wie gesagt, ich vertraue medizinischen Mainstream voll. Und damit auch Prof. Dr. Drosten, ohne beurteilen zu können, ob er recht hat. Aus meiner fachlicher Sicht würde ich ihm nur vorhalten, seine Rolle als Medienfigur zunächst falsch eingeschätzt zu haben. Als Drosten sich im NDR-Corona-Podcast mit Verschwörungs-you-name-it auseinandersetzte, die Zweifel an seiner Expertise säten, beschrieb er seine Bedeutung zu bescheiden:

Das ist der einzige Grund, warum ich als Person überhaupt in der Öffentlichkeit stehe. Nicht weil ich besonders schlau bin oder weil ich besonders gut reden kann oder irgendetwas, sondern weil ich als Spezialist an genau diesen Viren arbeite.

Allerdings ist seine unbestrittene Sachkompetenz eben nicht der „einzige Grund“ für den plötzlichen publizistischen Sonderstatus. Tatsächlich spielen auch Drostens Augenblicksintelligenz und rhetorische Fähigkeit eine entscheidende Rolle – ganz abgesehen von Eigenschaften wie Stil, Stimme und Aussehen. Vor allem jedoch ist Christian Drosten die Projektionsfläche teilweise unrealistischer Zuschreibungen.

Seine Zurückhaltung allerdings hat er inzwischen abgelegt und durch eine verblüffende Robustheit ersetzt. Kein Wunder, nachdem er einige Reputationsattacken parieren musste. Einen m.E. durchaus differenzierten und fachkompetenten Kritiker seiner Arbeit, Alexander Kekulé, stellt Drosten nun sozialmedial mit voller Followerpower in den Senkel. Das #teamdrosten tobt vor Vergnügen. Aber dieser Vorgang – mediale Lernkurve hin oder her – ist leider eher kein ermutigendes Signal:

Doppelrolle

Mit dem Streben nach Wahrheit als Leitmotiv von Wissenschaft ist es genauso wie mit dem Selbstverständnis der meisten Journalist/-innen als objektive Chronisten: es handelt sich um eine redliche „illusio“, wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu sagen würde2. Auch wenn die Akteur/-innen fest an diesen Spielsinn glauben, geht es auf allen Ebenen des sozialen stets auch um Macht und Interessen. Um Positonen.

Bourdieu empfiehlt an dieser Stelle erkenntnistechnisch einen Bruch mit den selbstverständlichen Annahmen, um sich selbst und den anderen besser auf die Schliche zu kommen. Denn ihre Doppelrolle ist den Protagonist/-innen selten bewußt. Immerhin jedoch thematisieren sie gelegentlich Widersprüche in ihrem Berufsalltag, zu Coronazeiten besonders. Ein ehemaliger, geschätzter Kollege fragte beispielsweise auf Facebook:

Warum bekommen die Demos so viel Aufmerksamkeit? Warum bekommen diejenigen, die sich Sorgen um ihren Schutz machen, so wenig Aufmerksamkeit? Es sind doch so viele mehr.

Tatsächlich sind „Hygienedemos“ ja keineswegs repräsentativ für die Bevölkerungsmeinung. Andererseits arbeiten sich gerade vor allem Journalisten und Journalistinnen medial hochintensiv an „Corona-Kritikern“ ab. Der soeben zitierte Exkollege erscheint ständig auf meiner Timeline mit sachdienlichen Hinweisen und wütenden Warnungen.

Das ist ein Grundwiderspruch im journalistischen Handeln: Ihre Arbeit dient der gesellschaftlichen Kommunikation und gleichzeitig der Selbstverteidigung eigener Definitionshoheit. Medienprofis übersehen oft ihre eigene Interessensgebundenheit.

Paradoxien kommen im Journalismus häufig vor. Das fängt schon mit der Kernaufgabe „Herstellung von Öffentlichkeit“ an. Wird sie doch vor allem dadurch gelöst, den großen Teil aller möglichen Inhalte wegzulassen. Deshalb wird eher über den Flugzeugabsturz berichtet als über die sichere Landung, öfter das spektakuläre Verbrechen gezeigt als die alltägliche Regelkonformität. Hinzu kommt noch die „eingebauten Schizophrenie“3 des Berufes: Seine Protagonist/-innen zugleich gemeinwohlorientiert und  Unternehmer/-in in eigener Sache zu sein.

Derlei Widersprüche gleicht journalistische Haltung normalerweise ganz selbstverständlich aus, ohne dass sich Journalist/-innen dessen immer bewusst zu sein müssen. Das wäre im Arbeitsalltag eher hinderlich. Corona jedoch versetzt das Immunsystem des Journalismus aber in einen bislang ungekannt intensiven Stresstest. Die Tendenzen des Medienwandels (Geschäftsmodelle schwächeln und die inhaltliche Autorität ebenso) radikalisieren sich „in diesen Zeiten“ bis zur spürbaren Existenzfrage.

Wahrheitsregime

Was unter dem Begriff „Wahrheitsregime“ zu verstehen ist, wurde bereits skizziert. „Jede Gesellschaft“, so Foucault, „hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre allgemeine ‚Politik der Wahrheit“ 4. Dass dieser Definitionsmachtanspruch derzeit hochumstritten ist, zeigen Diskurse um alternative Fakten beim Thema Corona deutlich auf.  Vielleicht bringt es die Formal vom „Pegida-Moment“ das aktuelle Kernproblem am besten auf den Punkt. Nämlich die Sorge, durch unachtsames Medienhandeln erneut eine radikale Randerscheinung in die Mitte der gesellschaftlichen Wahrnehmung  zu katapultieren. Übersetzt in die Metaphorik der Seuchenbekämpfung über im Kampf gegen die Infodemie: Ist ein kommunikatives Shut-Up besser oder diskursive Herdenimmunität? Ausgrenzen oder Aushalten?

Als Katalysator treibt Corona Entwicklungen zur Entscheidungsreife, die ohnehin bereits im Gange waren. In den Kommunikationswissenschaften wird seit einiger Zeit eine „Erosion der Wissensordnung“5 beobachtet.

Mittlerweile erzeugen alternativer Wirklichkeitskonstrukteure einen permanente Druck, bei dem die Etablierten gegenhalten müssen. Denn für klassische Journalist/-innen steht von jeher fest, dass sie befähigt und befugt sind, das gesellschaftliche Selbstbild zu zeichnen. Fragt man sie nach ihrem Rollenverständnis, so steht die objektive Berichterstattung bei allen Studien an der Spitze der Zustimmungswerte. Übrigens auch in meiner eigenen, noch unveröffentlichten Befragung von immerhin 900 Journalist/-innen.

Der Ausruf „Das kann doch nicht wahr sein!“ bekommt nach dem bisher Gesagten eine besondere Bedeutung. Mit den alternativen Deutern, ob privat oder professionell, können die etablierten Medienleute nicht koexisiteren. Noch einmal der Hinweis: Ich möchte nicht die inhaltliche Coronadebatte führen, sondern auf den habituellen Aspekt der Journalist/-innen in der Auseinandersetzung um das Wahrheitsregime hinaus. Hier sehe ich zwei grundsätzliche Reaktionsformen auf unerträgliche Wahrheitskonkurrenz: Therapieren (und Reparieren) sowie Negieren (und Separieren).

Therapie und Reparieren

Bei der Therapieform regiert die – für Journalist/-innen nicht untypische – pädagogische Hoffnung, Abweichler/-innen will man in das System zurückzuholen. Zielgruppe wären vor allem das passive Publikum, aber auch die teilaktiven Prosumenten. Denn neben der anonymen Allgemeinheit tauchen in den Corona-Debatten ja häufig Kollegen, Freunde oder Bekannte auf, die Irritierendes und Abstruses teilen bzw. kommentieren.

Recht repräsentativ für eine journalistisch-therapeutische Haltung ist, auch im Tonfall, der Blogpost von Dirk von Gehlen, dem Social Media-Vordenker/-macher der Süddeutschen Zeitung.

Ich weiß, dass Du kein Covidiot bist. Ich weiß, dass du wie wir alle Angst hast und vielleicht an ein oder zwei Stellen unvernünftig abgebogen bist. Das ist kein Grund, unsere Facebook-Freundschaft zu beenden. Aber es ist ein Grund, nochmal darüber nachzudenken, von wem die Sätze eigentlich stammen, die das schöne, aber trügerische Gefühl verbreiten, wir müssten uns nicht mehr fürchten.

Am Ausdruck „Covidiot“ wird deutlich, dass der Text keine inhaltliche Auseinandersetzung führen, sondern das Gegenüber wieder zur Vernunft bringen möchte. „Beruhige Dich und bringe Deine Ängste zum Ausdruck, aber bitte in angemessener Form.“

Eine konkrete Therapieform ist die Begriffsarbeit. In der Reihe „Sagen und Meinen“ betreibt DLF-Medienjournalist Stefan Fries Sprachbereinigung. „Lockdown“ zum Beispiel sei ein zu hartes Wort für die Corona-Beschränkungen in Deutschland und der Ausdruck Verschwörungstheorie würde unwissenschaftlichen Quatsch zu sehr adeln. Verschwörungsmythos sei besser.

Als besonders wirksames Serum gilt das Fakt-Checking. Namen wie „Correctiv“ sagen da schon alles. Informationen überprüfen und Fakes filtern, damit profilieren sich inzwischen einige Plattformen. Mal sind sie stiftungsfinanziert, mal öffentlich-rechtlich grundiert. Oft betreiben sie einen aufwändigen Datenjournalismus mit fast wissenschaftlichem Anspruch.

In der Journalismusforschung kann man derlei Anstrengungen als Reparatur der Paradigmen paradigm repair6  bezeichnen, also hier: der Normen objektiver Berichterstattung,

Der verständnisvolle Ton gegenüber „Unvernünftigen“ könnte allerdings auch leicht herablassend wirken. Sprachpolizeiliche Maßnahmen sind ebenfalls etwas zwiespältig. So verwenden Experten wie Drosten durchaus das Wort „Lockdown“ für die deutschen Restriktionen. Auch die linguistische Umprogrammierung von Verschwörungstheorie könnte Energien vergeuden und gleichzeitig Misstrauen schüren. Das Fact-Checking wiederum setzt auf eine nicht immer erfüllbare Objektivierung. Mal abgesehen von der immer Frage. Wer kontrolliert die Kontrolleure?

Jedenfalls setzt Therapie voraus, dass die Adressat/-innen überhaupt erreichbar sind.Hier weisen bislang viele Erkenntnisse darauf hin, dass extreme Sichtweisen, auch auf das Mediensystem, zwar keinesweges mehrheitsfähig sind. Aber es handelt sich um stabilde Größen, deren Standfestigkeit in der Mainstreammedien-Abwehr zudem eher zunimmt.

Negieren und Separieren

Dann liegt die Radikalkur nahe. Medienwissenschaftlicher ausgedrückt: eine konsequente boundary work7, nämlich das Negieren oder mindestens Separieren des unerwünschten Konkurrenten. Aufs Ausgrenzen setzt zum Beispiel Hauptstadtjournalist Markus Feldenkirchen vom Spiegel – und schlägt für Covidioten gleich die Klapsmühle vor. Harter Stoff allerdings, findet Medienkritiker Stefan Niggemeier:

 

Wer die Kolumne von Feldenkirchen dann durchliest, erfährt: Gemeint seien die Radikalen, nicht die ernsthaft Besorgten. Betroffenen müsse materiell und semantisch geholfen werden (Therapie). An „die Politik“ geht der Rat, dem Volk das eigene, so notwendige Handeln besser zu erklären.

Mit einem derart staatstragenden Rollenverständnis geraten Journalist/-innen allerdings leicht in den Zielkonflikt mit ihrer kritischen Kontrollaufgabe am Staat. Das ist eines der Dilemmata, die gerade in Coronazeiten auf den Punkt schmerzen.

In einer guten Debattenkultur ist Polarisation ja an sich kein Problem, sondern eine Frage der Spannungsregulierung. Demokratie lebt schließlich von Anregung und Provokation. Kultureller Forschrittt wäre ohne Subkulturen kaum denkbar.

Der Unterschied zwischen gesunder Skepsis und krankhaften Zweifel wirkt im Detail oft ziemlich unscharf. Und je ungelenker etablierte Medien auf ihren Objektivitäts-Nimbus idealisieren, umso mehr Zulauf erhalten ihre Gegner, wächst vielleicht sogar die Reaktanz, die Medienfeindlichkeit.

Mittlerweile haben Alternativplattformen einige Dissidenten des etablierten Medienbetriebs aufgenommen. Diese gastieren bei KenFM oder äußern sich beim rechten „Tichys Einblick“, wie Roland Tichy (Ex-Handelsblatt) und Wolfgang Herles (Ex-ZDF). Oder sie bevorzugen intellektualisierte Formate z.B. der Marke Rubikon, die mit ihrem strammen Antikapitalismus politisch gar nicht so leicht einzuordnen ist.

Überhaupt eröffnet das so genannte Kontaktschuld-Argument neue, originelle Konfliktlinien. So zog Medien-Professor Michael Meyen von der renommierten Ludwig-Maximilians-Universität einige Medienkritik auf sich, weil er dem Aggro-Mediensystemkritker KenFM ein Interview gab und auf seinem Blog einige Sympathie für derlei Gegenöffentlichkeit erkennen ließ. Von Rechtsradikalität findet sich da dort aber keine Spur.

Denn es handelt sich um einen prominenten Vertreter der Kritischen Kommunikationswissenschaft, die in ihrem Ansatz auch Mediensystemfragen verhandelt. Uwe Krüger, Professor in Leipizg, gehört als zu den Exponenten einer dezidierten Mainstreammedienkritik. Auf Basis seiner Dissertation8  hat die ZDF-Sendung „Die Anstalt“ die angebliche publizistische Konspiration transatlantischer Journalisten gegen Putins Rußland in Szene gesetzt. „Ken-Jebsen-Stammtisch im ZDF“ schrieb die Frankfurter Rundschau damals.

Dieses Beispiel soll nur ein Schlaglicht auf die diskursive Grauzone werfen. Aber einmal abgesehen von solchen Einwänden – eine reine Negation als Strategie scheint unwirksam. Zu viele Alternative, zu viele Alternativen. Auch wenn es angesichts verbaler oder gar tatsächlicher Gewaltexzesse mancher Coroner-Protestler schwerfällt – mit (seinen) alternativen Kritikern muss sich der professionelle Journalismus in irgendeiner Form konfrontieren. Heißt: mit einer permanenten Herausforderung abfinden.

Regulierte Öffentlichkeit

Auf der Medienkritikplattform Übermedien ringt Samira El Quassil immerhin mit dem performativen Widerspruch: Wie sind Verschwörungsmythen zu skandalisieren, ohne gleichzeitig Aufmerksamkeit auf sie zu lenken? Denn eigentlich will El Quassil genau wie Feldenkirchen derlei Äußerungen erst gar nicht vorkommen lassen. Die ganze Ambivalenz erreicht ihren Höhepunkt in einer ulkigen Formulierung:

Die nachrichtliche Selbstbeherrschung erfordert, diese Gruppen und Personen nicht stattfinden zu lassen – ohne sie komplett zu verdrängen: also ein wachsames diskursives Deplatforming zu Gunsten einer leisen Mehrheit voller Zuversicht.

Alles klar? Nein? Klingt ja auch ziemlich dunstig. Kein Wunder, denn schließlich vollführen Journalist/-innen derzeit einen abgründigen Grenzgang durch den Nebel. Zwischen Berichten und Belehren, Objektivität und Aktivismus. Überall lauern die Alternativen. Die alternativen Fakten und Medien. Sie haben sich als therapieresistent erwiesen und verschwinden auch nicht so einfach.

Zwischen der weichen Therapie und der radikalen Negation dürfte sich deshalb eine dritte Form der gesellschaftlichen Wahrheitspolitik durchsetzen: die regulierte Öffentlichkeit. Damit meine ich keine staatliche Zensur, sondern die verschärfte wechselseitige Beobachtung im sozialen und im medialen Verhalten. Bei den Corona-Maßnahmen hat sich die Neigung zu wechselseitiger Reglementierung deutlicht gezeigt. Aber das Prinzip lässt sich auch bei anderen, existenziellen Themen wie Klimaschutz nachvollziehen. Was gesagt wird und wie es gesagt wird, wird sofort moralisch beurteilt und auf den vermeintlichen Gemeinnutz hin kategorisiert. Toleranz, Neutralität, Objektivität – irgendwie outdated. Vielleicht ist das das „wachsame diskursive Deplatforming“, von dem El Quassil schreibt.

Das sind natürlich meine strammen Spekulationen. Quintessenz annekdotischer Evidenz nach (zu) viel Medienmetakonsum. Nein, noch kann niemand das neue Normal kennen. Zudem ist es nicht ausgeschlossen, ja sogar wahrscheinlich, dass selbst die Corona-Katastrophe auch positive Nebenfolgen hat, für die Gesellschaft und für die Medien. Möglicherweise setzt eine neue Journalist/-innen-Generation evidenzbasierte, wissenschaftlich orientierte Berichterstattung durch. Eine Rezozialisierung. Vielleicht gibt es anerkannte Ouoten für Diversity oder gar eine kundige „redaktionelle Gesellschaft“.

Fest steht mehr denn je– die reine Selbstbestimmung über Sagbarkeit und Sichtbarkeit, über Paradigmen und Grenzen von Journalismus gibt es für deren Profis nicht. Mit der ungewollten Konkurrenz müssen sie sich irgendwie auseinandersetzen. Das erfordert einen erfolgreichen Kampf um das Wahrheitsregime. Noch hat der etablierte Medienmainstream die Lage halbwegs unter sozialer Kontrolle. Neben klarerer Positionierung, publizistischer Mülltrennung und medialer Modernisierung gehört inzwischen Selbstreflexion zwingend zum Job.

Insofern: Der Deutungskampf geht weiter, weil er weitergehen muss.

  1. Hanitzsch, T, Laurerer, C., Steindl, N. (2016): Journalismus studieren in der Krise, M&K Medien- und Kommunikationswissenschaft, 64(4): 465-462
  2. Bourdieu, P. (1999): Sozialer Sinn; Frankfurt am Main: Suhrkamp: 122
  3. Weischenberg, S. (2004). Journalistik. Medienkommunikation: Theorie und Praxis Band 1: Mediensysteme – Medienethik – Medieninstitutionen (3. Auflage). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften: 171
  4. Foucault, M. (1978): Die Dispositive der Macht, Berlin: Merve: 51
  5. Neuberger, C. (2017). Journalistische Objektivität. Vorschlag für einen pragmatischen Theorierahmen. M&K Medien & Kommunikationswissenschaft, 65 (2): 406-431.
  6. Lance, W., Gressett, L. A. & Haltom, W. (1985). Repairing the News. A case Study of the News Paradigm. Journal of Communication, 35 (2), 50-68.
  7. Gieryn, T. F. (1999). Cultural boundaries of science. Credibility on the line. Chicago, Ill.: Univ. of Chicago Press.
  8. Krüger, U. (2013). Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten ; eine kritische Netzwerkanalyse (Reihe des Instituts für Praktische Journalismus- und Kommunikationsforschung (IPJ), Bd. 9). Zugl.: Leipzig, Univ., Diss., 2011

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