Die digitale Revolution hat offenbar einen besonderen Appetit: Metaphorisch betrachtet, frisst sie nicht ihre Kinder, sondern eher ihre Mütter und Väter. Vera Bunse und Wolfgang Michal bildeten bis vor kurzem die erfahrene Redaktion des renommierten Debatten-Portals Carta.info. Nach ihrem Abschied im Streit bleibt der Eindruck: Journalismus „alter Schule“ hat erhebliche Schwierigkeiten, sich der neuen Medienwelt anzupassen. Ob nun bei Carta, beim Spiegel oder sonstwo.
Gestern noch depressiv, jetzt wenigstens responsiv – nach ihrem frischen Relaunch wirkt die Seite Carta.info dennoch seltsam leblos. Kaum Kommentare, wenig aktuelles Material. Anders als sonst, denn lange Zeit galt Carta als eine Art Gedankenbörse für alle, die am digitalen Medienwandel tiefer interessiert sind. Nun fällt vor allem die großformatige Optik für alle technischen Plattformen auf.
Für die einen Relaunch, für die anderen Putsch
In einem Begrüßungstext zum neuen Auftritt informiert die neuformierte Redaktion dann auch vorwiegend über technischen Aspekte :
„Wir konnten lästige Bugs im Front- und Backend beseitigen und freuen uns, dass sich nun Arbeitsprozesse vereinfachen lassen und Inhalte schneller online gehen können.“
Als einen solchen Bug könnte sich – im übertragenen Sinne – auch der ehemalige Redaktionsleiter, Wolfgang Michal, fühlen. Schließlich hat er in seiner Stellungnahme schwere Vorwürfe gegen die einstigen Wegbegleiter erhoben und von einem „Putsch“ geschrieben. Auch die vor kurzem ausgeschiedene Redakteurin Vera Bunse sah sich zu einer distanzierenden Klarstellung gegenüber dem einstigen Arbeitgeber veranlasst.
Letzterer, als Förderverein Carta e.V. organisiert, verhält sich eher wortkarg in eigener Sache. Man wolle keine Interna in der Öffentlichkeit diskutieren. Im Transparenz fixierten Internetmilieu eine etwas überraschende Herangehensweise, zumal auf einem Debattenportal. Aber ich kann eine solche Haltung aus meiner Old School in Personalangelegenheiten heraus durchaus gut nachvollziehen.
Allerdings werde ich mich im Folgenden automatisch etwas mehr auf die Darstellung Michals beziehen. Dabei muss ich gleich klarstellen: Ein Werturteil über den konkreten Krach traue ich mir letztlich nicht zu. Was die Konfliktparteien posten und twittern, spricht für ein Gemisch aus menschlicher Enttäuschung und sachlicher Entfremdung. Und ich fühle mich ein bisschen an das weise Bibelwort erinnert: „Alles hat seine Zeit.“ Bzw. „hatte…“
Jedenfalls widme ich mich an dieser Stelle dem Fall als häufiger Carta-Leser, Gelegenheits-Kommentator und einmalig crossgeposteter Autor. Schließlich schlingert hier ein wichtiges publizistisches Netzprojekt mit exemplarischer Bedeutung für den dezeit besonders ruppigen Medienwandel. Denn die Causa Carta lässt sich verallgemeinern,wenn der ehemalige Redaktionsleiter Michal recht hat:
„Was bei uns passiert, passiert überall“
Als grober Beleg reicht da wohl schon das Ringen von Chefredakteur Wolfgang Büchner um den „Spiegel 3.0„. Welche Gräben sich da zwischen Menschen unterschiedlicher medialer Prägung auftun, bekommen inzwischen auch Außenstehende mit: „Onliner“ gegen „Altmediale“, um es brachial kurz zu machen. Ob es dabei um Unterschiede in der journalistische Auffassung oder um das materielle Gehaltsgefälle geht – mittlerweile ist branchenweit ein explosives Gemisch entstanden.
Lange Zeit waren publizistischer Cyberspace und reale Redaktionsräume als Parallelwelten angelegt. Nun finden sich ihre Bewohner in einer gemeinsamen Hybrid-Realität wieder, in der sie erst mal wieder im Wettbewerb ihre Position bestimmen müssen.
Nach Experiment, Euphorie und Ernüchterung wird die digitale Wahrheit wird nun immer konkreter. Dazu noch einmal Carta-Streithahn Wolfgang Michal in seiner Stellungnahme:
„Der digitale Veränderungsprozess, den wir auf der Plattform Carta so gern (und manchmal klugscheißend) analysieren, rumort also auch im Projekt Carta selbst. Wir sind Teil des schmerzhaften digitalen Wandels und stehen nicht außerhalb oder gar über ihm. Das sollte uns bewusst sein, auch dann, wenn es das eigene Projekt zerreißt.“
Eine offene, eine hoch respektable Aussage, wie ich finde. Tatsächlich macht das Lehrstück Carta also auch die Aggressionsschübe beim Spiegel besser erklärbar. Weder handelt es sich um Einzelfälle noch um Zufälle.
Kurze Rückblende: Was wollte Carta?
Am Anfang stand die Ambition. Der Blog für „digitale Öffentlichkeit, Politik und Ökonomie“ wurde 2008 vom mittlerweile verstorbenen Robin Meyer-Lucht gegründet . In der Selbstbeschreibung heißt es, man sei den „Normen des Qualitätsjournalismus verpflichtet“ (worin auch immer die bestehen mögen), allerdings kein „klassisches journalistisches Produkt“ (was auch immer das sein soll), weil man „nebenberuflich und unentgeltlich“ arbeite (wie auch immer das zusammenhängen mag).
Sei es drum. Deutlich offenbart sich hier ein moderner, alternativer und innovativer Gestus. Gefördert von der Rudolf-Augstein-Stiftung und ausgestattet mit einem Ehrfurcht gebietend besetzten Beirat, der höchste Ansprüche untermauern soll. Die Carta seit seiner Erschaffung durchaus eingelöst hat. Oft gelang es der Redaktion, den gesellschaftlichen, vor allem digitalen Umbruch aus dem Netz heraus hochinteressant zu erzählen. Bis in die Kommentarspalten hinein eine lohnenswerte Lektüre.
Das kam in der Fachwelt zu recht gut an, beispielsweise bei der Jury des Grimme-Online-Awards, den Carta 2009 erhielt. Zitat aus der Begründung:
„Carta“ ist ein erstes gelungenes deutschsprachiges Beispiel dafür, dass ein Autoren-Blog nicht lediglich als Ergänzung zu den einschlägigen Medienseiten der überregionalen Presse abgetan werden kann: „Carta“ kann die Funktion eines führenden Medienbeobachters und -kommentators in Deutschland übernehmen.
Öffentlichkeit als Selbsterfahrung
Jahrelang haben sie den Aufbruch ins neue Medienzeitalter kritisch begleitet. Irgendwann aber sehen sich die Macher von Carta mit dem Umbruch der eigenen Plattform konfrontiert.
Sinnkrise. Hausgemachte Besonderheiten und übergeordnete Entwicklungen stellen schließlich die eigene Arbeit ganz grundsätzlich infrage. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang: Der Post „Braucht es uns noch?“ und die Kommentare darunter. Irgendwann muss der Streit darüber entstanden sein, wer eigentlich inhaltlich das Sagen hat auf dem Portal. Soll die 2-Personen-Redaktion weiter relativ unabhängig arbeiten oder muss sie sich enger mit den Vereinskameraden/innen des Fördervereins abstimmen?
Es kommt offenbar zum Bruch. Bei den beiden Ausgebooteten wird menschliche Enttäuschung und publizistische Empörung deutlich. Dagegen wirken die Erklärungen der Gegenseite so, als habe man lediglich eine Reset-Taste gedrückt. Schon diese Äußerlichkeiten zeigen, wie unterschiedlich Medienleute heute ticken können.
Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man die Ursachenforschung von Wolfgang Michal auf sich wirken lässt. Man muss sich seinen Bewertungen nicht vollends anschließen, um dennoch zwei grundsätzlich wichtige Punkte zu identifizieren: Sachliche Unvereinbarkeit und menschliche Unverträglichkeit.
1. Unvereinbarkeit: Zielkonflikte
Wo es kein gemeinsames Verständnis über die Ziele der Arbeit gibt, sondern vielleicht zunächst eher euphorische Unschärfe vorherrscht, werden irgendwann die Rollen unklar. Michal beschreibt das Resultat für Carta so:
„Auf der einen Seite die ehemalige Redaktion, die auf ihre Unabhängigkeit gepocht hat und auf der anderen Carta Vereinsmitglieder: medienaffine Projektentwicklern, Berater, Unternehmer, Wissenschaftler, also Vertreter einer “ einer Dienstleistungsbranche, in der journalistische Grundregeln nicht ganz so wichtig genommen werden wie ‚gelernte’ Journalisten das erwarten.“
Prototypen: Hier grenzt sich das „klassische“ Selbstbild des unabhängigen Journalismus vom „modernen“ Dienstleistungsverständnis der Web-Plattform-Performer ab, für die Selbstvermarktung Teil des digitalen Spiels ist, sein darf, sein muss.
Wer definiert denn auch, was unabhängiger Journalismus ist und ob es den überhaupt geben kann? Journalisten selbst? Ihr Publikum? Alle? Keiner? Es ist schwer auszuhalten, aber gerade in der Flüssigen Moderne der digital vernetzten Gesellschaft wird Qualitätsjournalismus zur Behauptung derer, die die Deutungshoheit über den Begriff erringen. So frustrierend einfach ist das.
2. Unverträglichkeit: Persönliche Konflikte
Wenn dann zu den sachlichen Grundsatzproblemen noch räumliche und menschliche Distanz hinzukommen, wird es umso schwieriger. Auch dazu ein aufschlussreiches Zitat aus der Sicht des langjährigen Carta-Bloggers Michal:
„Menschen, die irgendwo vor ihren Rechnern sitzen und sich nur hin und wieder direkt begegnen, entwickeln auch wenig Verständnis für die unterschiedlichen Lebenswelten der anderen Projekt-Beteiligten. Insbesondere Medienmacher brauchen den ständigen Austausch in einer echten Redaktionsatmosphäre.“
Also noch eine ebenso schlagende wie allgemeingültige Erkenntnis: Auch auf einer Plattform herrscht Betriebsklima! Dessen Pflege geht über die technische Organisation von Kontakten weit hinaus. Denn selbst im vernetzten Zeitalter gilt: Wer sich medial bemerkbar machen will, der muss dazu einen Betrieb organisieren und sich dabei mit all den Fragen auseinandersetzen, die bisherige Apparate so schwerfällig gemacht haben. Change Management erfordert an dieser Stelle nicht weniger, sondern mehr Aufwand! Effizienzgerede hin oder her.
Lehrbeispiel und Lerneffekt
Soweit meine subjektive Interpretation der Vorgänge bei Carta.info. Natürlich hat der Machtkampf dort seine ganz spezifische Signatur und ich werde als Außenstehender einiges, möglicherweise das meiste übersehen haben.
Wenn man diese Geschichte trotzdem einmal nüchtern auf sich wirken lässt, dann gibt es eigentlich keine vordergründig Schuldigen. Die Fehlentwicklung – wenn es denn eine sein sollte – läge eher in der Fehleinschätzung aller Beteiligten. Offenbar haben beide Parteien unter Journalismus und Kollegialität unterschiedliches verstanden. Meistens wohl das, was am besten in die eigene Auslegung des digitalen Wandels gepasst hat. Das konnte nicht gut gehen.
Anstrengender weise werden die Regeln der gesellschaftlichen Kommunikation immer wieder neu ausgehandelt. Diese enorm wichtige Arbeit in Zeiten drastischen Medienwandels leisten Plattformen wie Carta. Die aber gleichzeitig selbst durchgeschüttelt werden. So wie auch der Spiegel. Wie alle anderen Verlage. Oder ARD , ZDF und Deutschlandradio.
Was also lehrt das Beispiel Carta?
Womöglich führt es uns ganz konkret vor Augen, wie wenig Gewissheit der digitale Medienwandel noch zulässt. Wie wenig Verbindlichkeit, inhaltlich und menschlich. Begriffe wie „Qualitätsjournalismus“ oder „redaktionelle Unabhängkeit“ wirken weitgehend ausgehöhlt, weil sich deren Maßstäbe in der unendlichen Vielfalt der Interessen und in der rasenden Geschwindigkeit ihrer Neudefinition nicht mehr festhalten lassen.
Der Kampf um die besten Plätze in der Aufmerksamkeits-Ökonomie wird jedenfalls immer härter. Vielleicht ist da diskursiver Zweifel einfach nicht mehr das richtige Konzept, sondern eher selbstvermarktungskompatible Behauptung.
Ende der Debatte. Vorläufig.
[…] dessen Regenten genau in dem Moment einsilbig wurden, als intern um den rechten kommunikativen Weg gestritten wurde. Nach dem Relaunch agiert Carta mehr denn je als Netz-euphorischer Tendenzbetrieb. Warum auch […]