Yes, es sind gerade Exit-Zeiten. Bloß raus. In Venedig kann erst recht niemand dem Eskapismus entkommen. Gerade wenn es in der Sommersaison unerträglich eng wird, weil so viele hierhin fliehen. Vor schlechtem Wetter oder schlimmen Schlagzeilen. Genau der richtige Ort also, um Einiges lernen über den Unterschied zwischen abrupten Ausstieg und kontruktivem Ausweg.
Selbst in dieser Stadt kommen einem manchmal Fluchtgedanken.
Maschinenpistolen auf dem Markusplatz! Was für ein bedrückender, ungewohnter Anblick: Schwer bewaffnete Uniformierte sichern Venedigs berühmten Treffpunkt für Tauben und Turtler. Der Schreck des Terrors sitzt überall tief. Und ein paar Schritte weiter, das nächste, leider sehr übliche furchteinflössende Bild: Im Bacino vor dem Dogenpalast, dreht mal wieder ein XXL-Kreuzfahrtschiff auf dem Teller, um sich zur Adria-Ausfahrt auszurichten.
Seit drei Jahren betreibe ich nun dieses Web-Tagebuch zu Medien-Meta aus der Perspektive des Alternden. Manchmal mit einem Seitenblick auf die große Bühne Venedig. Auf der das Elend der Welt – wie auch ihr Glanz – nachinszeniert wird, mal furios, mal kurios, oft geschmacklos. Immer fasziniernd.
Aktuell will sich der geplagte Zeitgeist vor allem in Sicherheit bringen. Damit ist er in Venedig bestens aufgehoben. Das Insel-Konglomerat in der Lagune hat sich schließllich als unzugänglicher Schutzraum in den Wirren von Völkerwanderungen gefügt. So erzählt es der Gründungsmythos. Aus der Zufluchtstätte wurde danach eine Großmacht; und als die vergangen war, blieb die Stadt wenigstens Sehnsuchtsort.
Inzwischen ist die Stadt leider derart anziehend geworden, dass sie ihre Attraktivität zu verlieren beginnt. Vom Traum zum Trauma: Einzigartiger Fluchtpunkt zu sein, begründet Venedigs Existenz und bedroht sie gleichzeitig. Diese Stadt müsste vor sich selbst weglaufen.
Oder sich den globalisierten Realitäten stellen: „Reporting from the front“ lautet das Motto der aktuellen Architektur-Biennale, Ausgabe Nummer 15. Der deutsche Beitrag etwa beschreibt konstuktive Lösungen für das Flüchtlings-Elend. So weit, so gut gemeint. Wie schon die vergangene Kunstbiennale 2015 unter dem Titel „All the worlds futures„, so setzt sich auch die aktuelle Ausstellung mit den politischen Problemen von Gegenwart und Zukunft auseinander.
Manchmal wird die Bühne in der Lagune aber für skandalöse Inszenierungen gestürmt. Die Korruptions-Affäre um das milliardenteure Flut-Sperrwerk M.O.S.E. im Sommer 2014 zum Beispiel, die große Teile des regionalen Establishments aus dem Amt fegte, inklusive Bürgermeister. „Terremoto“- Erdbeben- titelte damals der Gazzettino. Den selben Ausdruck verwendet das Lokalblatt übrigens aktuell für den Brexit, der uns erschüttert..
Zu allem Überfluß quilt auch noch der Zuschauerraum über. Zig Millionen Menschen übervölkern jährlich eine Stadt, die sich genau durch diesen Andrang schleichend entvölkert. Kein Winkel bleibt für GPS-gestützte Touristen unentdeckt, keine Gasse von finanzkräftigen Investoren verschont. Alteingesessene Einheimische gerate in Dauer-Defensive.
Nun ist es aber wirklich Zeit, mit diesem Text die Kurve zu bekommen. Weg vom Untergang, vom Klagelied, von der Sehnscht nach gestern, also nach der alten Grandezza, nach dem alten Empire. Das ist so,so …. Brexit. Denn schließlich gibt es ja noch die Flucht nach vorn, Kurs Zukunft. Wenn es um Wandel im Allgemeinen oder Besonderen geht, dann lohnt immer ein Blick auf das Generationen-Verhältnis. Erklärt nie alles, hilft aber zu verstehen.
Hoffnung für die Zukunft Venedigs nährte bei mir dieser Tage eine kleine Zeitungsnotiz. Unter dem Label „Generazione 90„ hat sich gerade eine kleine Gruppe junger Bürger/innen organisiert, die ihren Marsch durch die Institutionen antreten will. Richtung Umkehr und Nachhaltigkeit. Die Zeit der Lähmung sei vorbei, nun wollen Vertreter/innen der in den 90er Jahren geborenen Generation handeln.
Nach den Motiven gefragt, kommt dieser saure Satz:
Non siamo nostalgici, siamo incazzati
„Wir sind keine Nostalgiker, wir sind stinksauer.“ Anstatt nur frustriertes Zeichen zu setzen und sich mit einem schlanken Kreuz bei Opt-Out zu verabschieden, formulieren sie Vorschläge, drängen auf deren Umsetzung, bieten ihre Beteiligung an.
Handeln beginnt mit Verhandeln und so nehmen die Engagierten der Generazione 90 gleich mal Platz im Wortsinne. Palavern auf einem Campo. Überlegen, was zu tun ist.
Hinsetzen und Reden – herrlich naiv, nicht? Das mobilisiert unmittelbar den Das-klappt-doch-nie-Reflex. Wo es doch diese tolle simple Alternative gbt: Abhauen, Abschotten und Aufrüsten. Exit und Hopp.
Nur lehrt das Beispiel Venedig, dass das nicht funktionieren kann. Kein gesellschaftliches Problem löst sich durch Opt-Out in Luft auf. Höchstens in Streit. Dann wirlich lieber ein Sit-In. Und sei es, um gemeinsam die Panik in den Griff zu bekommen.
Standfest bleiben, nicht stehen bleiben. Probleme lösen, nicht Bindungen. Das ist der Unterschied zwischen Ausstieg und Ausweg. Speriamo.
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