Meine Bilanz 2016: Medien-Menschen zwischen Hype und Hysterie. Bestes Beispiel: Die im Netz vielfach geteilte Big Data-Geschichte über den Anteil der Firma Cambridge Analytics am Wahlsieg von Donald Trump. Anstatt überempfindlich sollten wir lieber achtsam sein.
Mit der Plausibilität des Beitrags in „Das Magazin“ will ich mich hier nur kurz beschäftigen. Dazu gibt es nach einer Woche eine Menge anderes, gutes Material, international. Man wird vermutlich immer nur darüber spekulieren können, wie hoch nun wirklich der Anteil der Social Media gestützten Psychometrie an Wahlergebnissen ist, ob nun bedrohlich oder geringfügig. Oder so mittel.
So hoch die Erregung in der Branchen-Badewanne schwappte, der Fall wird am Ende dieses Jahres zu den Randnotizen gehören. Trotzdem bringt die Sache für mich dieses Medienjahr auf den Punkt. In einem Tweet las ich einen klugen Ausdruck dafür: „Positionierungs-Reflex“.
Meine folgenden Mutmaßungen beschäftigen sich nämlich mit den Lehren zum Modus der Meinungsbildung im kommunizierenden Gewerbe.
Denn was nach Erscheinen des Artikels eingesetzt hat, ist ein idealtypisches Beispiel für diskursive Gruppendynamik in schwarzweißen Zeiten. Die dichotome Ja-Nein-Denke hat sich flächendeckend durchgesetzt. Aus Meinungsbildung wird Meinungskampf; Wissensgesellschaft mutiert zur Besserwisser-Gesellschaft.
Anhand des vorliegenden Falles unterscheide ich zunächst drei Phasen – oder besser: Haltungen – zum Thema: Hype, Ernüchterung und Hysterie. Anschließend spekuliere ich dann doch noch über tiefer Hintergründe und Abgründe. Das Fazit am Schluss wird Dich total verblüffen !!!
Hype: Törichtes Teilen
Im dem umstrittenen Artikel schilderte der Daten-Wissenschaftler Michal Kosinksi, wie mit seiner cleveren Social-Media-Vermessungstechnik die US-Wahlen zugunsten von Donald Trump entschieden wurden. Wie vorher schon den Brexit. Angeblich todsicher möglich per so genanntem Voter Targeting auf der Basis von Facebook-Likes und Postings.
Nachvollziehbar malten die Autoren Hannes Grassegger und Mikael Krogerus aus, wie beängstigend präzise Menschen mithilfe von Big-Data-Analyse-Tools für politische Zwecke mobilisiert werden können. Auf unser aller Datenspuren gelangt zum Erfolg, wer sich Berater wie die Cambridge Boys leisten kann. Die weisen den Weg zur richtigen Dosis Propaganda für das einzelne menschliche Ziel, das „target“. Volltreffer.
Viele Leser hat die Geschichte ebenso fasziniert wie schockiert. Auch mich. Sehr viele haben den Beitrag in den sozialen Netzwerken geteilt. Auch ich. So entstand ein viraler Hit in der Medien-Branchen-Blase. Oft wurde der suggestive Plot des Artikel noch mal zugespitzt kommentiert. Auch von mir. Ich fand es in meinem Re-Tweet „irre“.
Fertig war der Hype. Bei all der Aufmerksamkeit spielt wohl geisteswissenschaftliches Gruseln eine Rolle, angesichts einer verdateten Gesellschaft und des scheinbar schwer erklärlichen globalen Rechtsrucks. Die Geschichte über Cambridge Analytics passe perfekt in aktuelle und generelle Deutungs-Lücken.
Entschärfung: Medienkompetentes Mahnen
Andererseits kann man die steile These des Artikels im Magazin natürlich ebenso gut als eine sehr gelungene PR für eine Spin-Doktoren-Klinik ansehen. Auf jeden Fall gehört die mechanistische Manipulations-Menschenbild kritisch relativiert und die statistische Basis hinterfragt.
Der Hype wurde den Netz-Optimisten jedenfalls des Düsteren zu viel. Sie stellen nun berechtigte, kritische Nachfragen-Fragen. Bildungsblogger vermissten schon länger profunde Beweise, IT-Juristen monieren Leichtgläubigkeit gegenüber Kronzeugen. Statistik-Kenner rechnen nach und relativieren.
Alles wertvolle Hinweise. Zur Medienkompetenz gehört, gerade auch dann skeptisch zu bleiben, wenn ein Text mal so richtig ins eigene Weltbild passt. Nicht gleich an die monokausale Welt-Formel glauben.
Die Autoren des viel diskutierten Artikels hängen im Interview ihre Geschichte dann auch noch einmal in die richtige Höhe.
Wir haben lediglich das neuste Verfahren, das es in der Polit-Marketingwelt gibt, vorgestellt. Und das zielt darauf ab, die Menschen in einen gewissen Diskussions- und Informationsraum einzupacken und für sich zu gewinnen. Aber die große Gretchenfrage bleibt dieselbe: Kann man Menschen mit Informationen manipulieren? Das können wir nicht beantworten. Wir haben die Methode aufgezeigt, die diese Firma gegen Geld anbietet, und zwar vor allem rechten Parteien.
Damit war die Bombengeschichte eigentlich entschärft: Sensibilität beim Lesen geweckt, vor törichtem Teilen gewarnt.
Hysterie: Gegen-Verschwörungsthese
Aber die Tonlage blieb bei einigen seltsam schrill. Die Erinnerung an mehr Medienkompetenz gerät zum empörten „Wie konntet Ihr nur?“ Aus dem Hinweis auf eine allzu steile These wurde nun eine umso steilere These: Eine Verschwörungs-Verschwörungstheorie.
Dennis Horn vom WDR wittert German Angst:
Eine typische Mischung aus deutscher Algorithmen- und Technologie-Skepsis und Angst vor Big Data. Es gibt in dem Artikel keine belastbaren Daten, keine Fakten, es gibt nur Spekulationen und PR-Quatsch von Cambridge Analytics.
Fabian Reinhold vom Spiegel spricht von Schauergeschichte „Schauergeschichte“. In dieselbe Kerbe schlägt Blogger Jens Scholz:
Man braucht ein magisches Weltbild, um an eine Formel zu glauben, die mathematisch das Wort errechnet, das man einem Menschen sagen muss, damit er plötzlich und willenlos seine Meinung ändert.
Noch einmal aus dem viel beachteten Post von Dennis Horn:
Es kann doch nicht sein, dass wir wochenlang über Fakenews diskutieren – um im Anschluss wie ein Schwarm den erstbesten Artikel zu teilen, unreflektiert, ohne einen Hauch von Kritik, einfach nur, weil er perfekt ins Weltbild passt.
Damit wird der Bericht über Cambridge Analytics mit Fake-News, also gefälschten Nachrichten, verglichen. Weil es berechtigte Zweifel an der Wirksamkeit des Voter Targeting gibt, wird daraus ein Beweis des Gegenteils gemacht. „Big Data allein entscheidet keine Wahlen “ Aha. Lässt sich das wirklich ausschließen? Wie genau wurde das ermittelt?
Wer sowohl den Artikel als auch das darin enthaltene Unbehagen geteilt hat, der steht nach dieser Lesart jedenfalls als naiv bis ballaballa da. Damit wurde auch ich zwangs-vertrottelt. Dabei hatte ich nur gestaunt, geteilt und mir aber gar nicht so viel dabei gedacht. Irre Geschichte halt – lest und urteilt selbst, liebe Follower. Gut, ich hätte vielleicht tiefer einsteigen können/sollen.
Hintergrund: Digitale Kränkung
Die eigentlich spannende Frage richtete sich aber auf die Ursache einer Überempfindlichkeit, mit der wir inzwischen öffentlich den Gesellschaftswandel verhandeln. Themen werden vor allem auf den Zweck ihrer Thematisierung abgeklopft. Für oder gegen den Digitalen Wandel als solchen. Stoppen oder laufen lassen.
Einer brachte es besonders gut auf den Punkt, was die Netzpositivisten so aufregt an dem Viral-Erfolg der Cambridge Analytics-Geschichte – Credibility-Celebrity Mario Sixtus twitterte:
Kernfrage: Wie viele „Das Internet wird unser Unheil sein!!1!“-Artikel in FAZ, SZ etc. wird Cambridge Analytica wohl nun auslösen?
— Mario Sixtus 馬六 (@sixtus) December 4, 2016
Jetzt ist es der kritisierte Artikel selbst, der angeblich ganze Rudel pawlowscher Pressehunde zu kulturpessimistischer Netz-Schelte verführt. Stimulus-Response nach dem Motto von B-Filmen der 60er Jahre: „Ich kenne nur einen Herrn und Gebieter – Dr. Mabuse.“
Kurioserweise unterstellt eine solche Befürchtung genau jenes simple lineare Wirkungsmodell, das bei den Facebook-Profilern mit Recht hinterfragt wird.
Post-Fakt ist: Während in Politik und Wirtschaft Druck gemacht wird, die „digitale Transformation“ Deutschlands endlich voranzutreiben, arbeitete sich der germanische Kleingeist an seinen Sorgen ab. Das Technologie-Michel-Muffel-Narrativ gehört zum Diskurs-Inventar wie Digitale Demenz. Hüben wie drüben.
Freunde des Framings fordern als Gegenmittel zur Digital-Skepsis eine nettere Rahmung des Zukunftsthemas. Der Kulturpragmatiker Dirk von Gehlen steuerte jüngst die originelle Idee eines Vereins zur digitalen Brauchtumspflege haben. Ein sympathischer Vorschlag zur Güte.
Internet-Ausleger Sascha Lobo geht da diagnostisch härter ran: Magischer Digitalismus habe „uns“ befallen. Ein pathologischer Glaube an die Technik-Allmacht sei da am Werke. Dazu sperrt Lobo in seiner Kolumne Unerleuchtete und Verblendete in einen Argumentations-Käfig:
Der magische Digitalismus aber wird zum doppelten Problem der Gesellschaft. Einerseits, wenn dieser Digitalaberglaube aus Unwissen entsteht, und andererseits, wenn er aus der Hybris, der Selbstüberschätzung der Wissenden entsteht.
Vor einiger Zeit hatte Lobo einen Begriff in die Debatte geworfen – nein, nicht: „Shitstorm“ –, den ich für argumentativ überzeugender halte: Digitale Kränkung. Die große Enttäuschung über das, was bislang den großen und großspurigen Versprechen des Internets wurde.
Bei dem Netz-Theoretiker Michael Seemann lässt sich das dieser Tage nachlesen. In einem Rant, also einem Kommentar am Rande der wissenschaftlichen Zurechnungsfähigkeit. Aber Klartext.
Erinnert euch: wir kämpften für freie Vernetzung, Abbau aller Hierarchien, für dezentrale Machtverteilung, alternative Medien, Gegenöffentlichkeiten und feierten den Tod des Gatekeepers. Zehn Jahre ist das erst her.
Und wir bekamen PEGIDA und andere Facebookgruppen voller Hass, ein Journalismus in der Krise, der niemanden mehr erreicht, weil die alternativen Medien jetzt überall sind und lieber Verschwörungstheorien und Fakenews verbreiten. Eine weltweite Bewegung der desinformierten Wutbürger pflügt gerade die Welt um.
Rafft es endlich: Wir leben nicht in der Dystopie eines Schirrmachers oder Snowdens, sondern in der Utopie der Netzgemeinde. Gone horribly wrong.
Starker Tobak, ein Wortausbruch. In seinem Buch „Das neue Spiel“ lesen sich die Strategien für den Umgang mit dem Kontrollverlust im daten-dominierten „Post-Privacy“-Zeitalter gelassener. Hart und unfair geht es dagegen zu, wenn Netztheorie auf Wirklichkeit trifft.
Die Geister, die es rief und die Strukturen die es zerstörte, haben das Netz gemeingefährlich gemacht. Neben den Segnungen.
Lösung: Ratloser Raten
So wortreich Blogger Kritisches analytisch anzuprangern pflegen, die Verbesserungsvorschläge fallen meist recht knapp und unverbindlich aus – ratlose Ratschläge.
Am Ende seines radikalen Rant fordert Autor Seemann beispielsweise:
Und können wir endlich mal eine ehrliche Debatte führen, ohne den Schirrmacherbullshit? Dann wär doch mal was gewonnen.
OK: Wir müssen reden, ehrlich reden. Ehrlichkeit fordern, das geht ja immer. Wobei der Appell berechenbar folgenlos ist, denn es gibt weder interessenslose Kommunikation noch sortenreine Transparenz. Ehrlich.
Aber mit dem Reden hat er ja recht. Der digitale Wandel ist tatsächlich Verhandlungssache, eine große, mühsame gesellschaftliche Aussprache. Auf verführerische Weise leichter ist natürlich das Tun oder Weitermachen. Oder lassen. Am leichtesten ist aber das wohlbegründete Vertagen – um noch mal den Bogen zum Anlass dieses Posts zu schlagen.
Der schon mehrfach zitierte Dennis Horn formuliert seine Schlussfolgerung aus dem Hype um das Voter Targeting bei den US-Wahlen so:
Natürlich müssen wir über Big-Data-Ansätze und ein modernes Datenschutzrecht diskutieren. Aber ein dermaßen angreifbarer Artikel, den nun alle hysterisch teilen, ist nicht gerade die perfekte Grundlage für eine sachliche und differenzierte Diskussion.
Ein Klassiker in Diskussionen: Weg vom Thema, hin zum Thematisieren. Statt einen Artikel als Anregung zum Nachdenken über den Stand datengetriebener Beeinflussungstechnologien zu nehmen, wird darüber gestritten, ob es überhaupt eine Story ist. Narrativ-Kritik, sozusagen.
In einem anderen Kontext würde man das wohl derailing nennen. Ein verständliches Ablenkungsmanöver. Es ist doch kaum auszuhalten, den so komplizierten, so spekulativen, so wirkungsvollen Medienwandel breit und breiig immer wieder zu besprechen. Dennoch: Auf die „perfekte Diskussionsgrundlage“? können wir lange warten. Auch das digitale Leben bleibt paradox und widersprüchlich.
Fazit und Ausblick: Gegen die Goldwaage
Aus meiner Sicht war der Cambridge Analytics-Artikel in „Das Magazin“ ja tatsächlich einer der wichtigsten Texte des Jahres. Nur vielleicht nicht so, wie das begeisterte Leser beim Weiterempfehlen vielleicht gemeint hatten.
Denn für den Zustand der Mediendebatte, Stand 2016, sehe ich kaum ein besseres Beispiel als gerade diese Diskussion rund um den Cambridge Analytics-Beitrag.
Das Verblüffende: Alle haben mehr oder weniger recht. Aber das reicht den wenigsten. In Krisenzeiten denken wohl leider viele: „Wenn ich die anderen erniedrige, sieht man mich besser.“
Zum Schluß fasse das ablaufende Jahr mit 88,48 Prozent Wahrheitswahrscheinlichkeit zusammen:
- Die Diskussion um die (Medien-) Zukunft ist in der entscheidenden Phase. Es wird ernst.
- Deshalb gehen Zwischentöne im Schwarzweiß unter. Es zählt das Entweder-Oder.
- Was die eigene Haltung bestätigt, wird schnell ge-hyped. Das macht es einfacher.
- Auf Irritation der eigenen Position wird hysterisch reagiert. Das macht es noch einfacher.
Leider fällt mir trotzdem kein anderer Ansatz ein, als wenigstens die Goldwaage zur Seite zu legen und offen zu bleiben, auch für das Irritierende, Emotionale, Angreifbare. Hinhören, Hinsehen. Statt Abwehren und Abwerten.
So gut wie alles, was wir uns so an Prognosen gegenseitig zumuten, beruht doch auf Plausibilität, auf Wahrscheinlichkeiten. 100 Prozent ist das allerdings selten – ob wir nun den Klimawandel diskutieren oder den der Gesellschaft.
Mein guter, achtsame Vorsatz für 2017: Augen auf und durch!
[…] Aha-Erlebnis in der Mediendebatte 2016 hatte ich hier bereits ausführlich und analytisch beschrieben. In einem weiteren Schlüsselmoment musste ich […]