Venedig feiert die Kunst der Gegenwart, vor allem jedoch die Gegenwart der Kunst. Letzteres kommt mir sehr entgegen: Die 55. Biennale ist ein sinnliches, überwiegend un- digitales Erlebnis. Historische Räume, aktuell inszeniert, machen die Stadt zur Weltbühne. In den Palazzi und Giardini, im alten Arsenal der Marine oder auf den neuen Prunkgaleeren der Mäzene – überall feiern Kulturfreunde ein Fest der Kommunikation, Face to Face und Face to Art.
Können Künstler uns diese Welt noch erklären, wie das Ausstellungsmotto vermuten lässt? „Der enzyklopädische Palast“ des Ober-Kuratoren Massimiliano Gioni, wie sieht er denn aus in Zeiten von Wikipedia und Mashup? Darauf gibt es sicher sehr viele feuilletonistische Antworten, denen ich kulturjournalistisch nichts hinzuzufügen habe. Mein Mut zur Kompetenzlücke ist hier begrenzt. Stattdessen ein paar subjektive Gedanken zum Medium Biennale.
Um einmal vom symbolträchtigen Ort auszugehen: Aqua Alta und Massentourismus sind bekannt. Venedig säuft aber auch als Kulturmetropole fast ab. Insbesondere in der Woche vor der offiziellen Eröffnung strömen jede Menge Kunstbeflissene und –besessene in die Lagune. 88 beteiligte Nationen, Hunderte glanzvoller Empfänge, Tausende wichtiger Verabredungen, Hunderttausende erwarteter Besucher. Nabelschau und Weltausstellung, national und kollateral, auf jeden Fall multimedial. Schon weil alle ihre Smartphone, Tablets und Digicams dabei haben.
Viele Ausstellungstexte beziehen sich auf die neue Unübersichtlichkeit der digital globalisierten Gegenwart. Dieser Herausforderung begegnet die Biennale medial höchst unterschiedlich: Vom Angebot hüpfburgartiger Partizipation auf der Bühne niederländischer Game-Designer am Prunkufer (dropstuff.nl) bis zur extrem reduzierten Sinneswahrnehmung im lichtlosen, halltoten Raum des koreanischen Pavillons. Glockengeläut (Polen), Goldregen(Russland) und Gesang (Zentral-Pavillon).
Formal ist also alles im Angebot. Dabei gelingt es erstaunlich oft, dem Besucher ein persönliches Erlebnis von Selbsterfahrung zu vermitteln. Selbst dort wo sich der Sinn schwer erschließt, tut das gut, weil es so sinnlich ist. Kulturschaffenden mit Mission wird so ein banaler Ansatz vielleicht ein Gräuel sein. Aber was soll´s: Hier bin ich Mensch, hier muss ich kein Datenträger sein. Und ich gebe zu, dass mich manchmal sogar Architektur und Genius Loci eines Palazzo mehr als die dort dargebotene Kunst beeindrucken.
Was einige Ausstellungsmacher auch geschickt nutzen: In der altehrwürdigen Nationalen Bibliothek Marciana gegenüber dem Dogenpalast hat die abstrakte Künstlerin Lore Bert eine Installation geschaffen, deren Objekte mit dem Raum kommunizieren: „Kunst & Wissen – Der Geist des Ortes in den 5 Platonischen Körpern“. Fünf verspiegelte Polyeder, eingebettet in japanisches Seidenpapier und flankiert von weiteren Bildobjekten, die geometrische Formen zeigen, häufig mit Bezug zur Architektur Venedigs. Idealistische Sehnsucht nach Schönheit. Das passt.
Das Deutsche Studienzentrum in Venedig ist auch so ein würdiger Ort der Stadt an sich. Den man beispielsweise als Journalist aus Anlass der Biennale besuchen kann. Allein der Ausblick würde das rechtfertigen. Auf seiner riesigen Terrasse am Canal Grande präsentiert das Centro Tedesco an diesem Tag zudem auf einem Empfang Rein Wolfs, seit kurzem Intendant der großen Bonner Bundeskunsthalle. Eine Institution mit einem fast globalisierten Ausstellungsbegriff: „Ort der Künste und der Kommunikation, international und weltoffen“.
Was bringt eigentlich heute noch ein fester „Ort“, wo doch die „Liquid Culture“ im digitalen globalen Dorf ganz andere Möglichkeiten eröffnet? „Ich will Museum bleiben“, lautet Rein Wolfs knappe, klare Antwort. Menschen brauchen einen unmittelbaren Eindruck von Kunst und Kulturgeschichte. Erfahrung bedeutet dabei mehr als Erkenntnis, Bildung mehr als Wissen. Das schließt modernen Medieneinsatz natürlich nicht aus. Und für zeitgemäße Transparenz am Rhein konnte Intendant Wolfs man schon mal durch einen Mauerdurchbruch im gefeierten, aber etwas hermetischen Bundeskunsthallenbau des Architekten Gustav Peichl sorgen.
Wenn sich Kunst und Kultur dem Betrachter so konkret annähern wollen, dann kann dieser sich nur noch selbst das Erlebnis versauen: Hotel Londra Palace an der berühmten Riva degli Schiavoni. Beste Lagunen-Lage, auch für die Live-Painting-Aktion des Mailänder Künstlers Andrea Chisesi. Der hat seinen besonderen Weg der Liquid Culture gefunden, indem er hochvirtuos spezielle Acrylfarben aus einem Plastikbecher auf kartoniertes Papier träufeln lässt.
Sieht wirklich cool aus. Wenn nicht gerade ein hochgehaltenes Tablet in die Sicht wedelt. Oder die digitalfotografischen Bemühungen manch anderer Beobachter einen ins Grübeln bringen. Warum kann denn Dabeisein nicht mal wieder alles sein? Was bringt es Menschen – wohlgemerkt keine Presseleute – sich den eigenen Blick technisch zu verstellen? Den Augenblick festhalten, natürlich. Allerdings um den Preis, jenen Moment das Erlebens zu versäumen, den die eigene geistige Festplatte vielleicht bewahrt hätte.
Klar, im häufigen Gedränge unmittelbare Erfahrungen zu sammeln, ist schon eine Kunst für sich. Wenn sich andererseits zwei ältere Damen lauthals geloben, ihre Fotos per Dropbox in die Daten-Cloud zu stellen, ist das ja auch irgendwie Kulturaustausch. Und schließlich will ich nicht verschweigen, dass digitale Ortssouveränität manchen Biennale-Profi aus echten Nöten befreit hätte. Etwa jenen Amerikaner, der durch einen Sprint über venezianische Brücken zum nächsten Termin hetzte. Eine Landsfrau rief ihm noch aufmunternd zu: „Hurry up. Art needs you!“
Außerdem wird in Venedig vielleicht tatsächlich ein bisschen zu viel gefeiert und ein bisschen zu wenig zwischen Kultur und Kommerz unterschieden. Aber über Kunst und über Gegenwart lässt sich auf der 55. Biennale trotzdem viel lernen. Echt.
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