Ihr Hochmut blieb, auch nach dem Fall: Venedig, die „Allerdurchlauchtigste“, beansprucht weiterhin Welt-Deutungshoheit, nunmehr in Form der 56. Biennale: „All the World`s Futures„. Tatsächlich vermag die Serenissima immer noch zu beeindrucken. Zu Wasser, zu Lande, in der Luft. Analog und sogar digital. Machen wir uns doch einfach auf den Weg.
Denn wo sonst könnten wir uns ein besseres Bild vom Zustand unserer Welt machen als in Venedig, diesem globalen Spektakel auf steinerner Bühne. Aber wie? Ich kann nur raten, sich einfach treiben zu lassen, wie zufällig durch die vielfältig verwinkelten Räume, möglichst ohne irgendwelche (Stadt-)Pläne. So viele Wege, so viele Ziele…
Schließlich begegnet einem die Biennale hier überall. Sie hat sich längst, ausgehend von den beiden Hauptspielstätten Giardini und Arsenale, über die ganze Stadt verbreitet. Und erschließt dem Betrachter so ganz nebenbei manchen Ort, der sonst unzugänglich wäre. Palazzo-Hopping. Außerdem ist nun der Blick gerade frei geworden, nachdem die Vorbesichtigungs-Schickeria abgerauscht ist , die meisten Sponsoren-Yachten abgelegt haben.
Futures? Plural? „Zukünfte“? Das großspurige Motto des Kurators Okwui Enwezor sagt den einen alles und manchen nichts. Wer jedenfalls dieser Tage einen der Event-Small-Talks belauscht, der hört begeisterte, aber auch enttäuschte Stimmen. Zwischen pointiert und diffus, orginell und öde, provokant und platt bewegen sich die Vernissage-Urteile. Wie immer.
Gerade altgediente Beobachter mokieren sich darüber, dass sich eine nachrückende Generation der Kunstszene entweder zu viel vornimmt oder das Rad noch mal neu erfindet. Fragt sich allerdings, ob das gegen oder gerade für die 56. Ausgabe der Kunstschau (-Show?) spricht. Das werden wohl die Besucher/innen selbst entscheiden müssen.
Eine Herausforderung ist sie schon, diese neueste Unübersichtlichkeit, diese ambitionierte Fülle. Wenn man es positiv deutet, repräsentierte diese Ausstellung eindrucksvoll die Komplexität der Probleme auf der Welt. Etwas kritischer gewendet, fehlen vielleicht die sinnstiftenden Lösungen, die Visionen. Dominiert manchmal die Pose gegenüber der Haltung.
Politisierung
Zumindest haben die Ausstellungs-Macher/innen gleichermaßen den Glanz und das Elend der Welt ins Zentrum der Lagune geholt. Auf den haushohen Luxus-Booten an der Riva wurden sicher auch Beiträge zum Elend der Flüchtlinge im Mittelmeer diskutiert, so wie jene Installation im Palazzo Mora, der verschiedene Künstler unter dem Titel „Personal Structures: Crossing Borders“ beherbergt.
Flüchtlingsschiffe am laufenden Band – kippt das eine herunter, so erscheint am anderen Ende ein neues. Wenn ich nun derartige politisierten Kunststücke für mich ordnen sollte, dann in etwa so: Widersprüche (Armutsmigration im prächtigen Palazzo) werden hier nirgends aufgelöst, sondern aufgezeigt. Aushalten müssen wir sie wohl selbst.
Provokation
Eindeutig dagegen: Auch, nein, gerade die Kunstszene muss sich in der Aufmerksamkeitsökonomie refinanzieren. Da kommt ihr jedes Mittel recht. Gern genommen wird die Performance-Provokation. So werden denn Karl-Marx-Texte komplett verlesen, künstliche Eisberge übers Wasser gezogen oder auffällig Verschleierte durch die Gassen geschickt.
Der Islam gehört zu Geschichte Venedigs, als Feindbild des Glaubens-Gegners wie auch als Religion der Geschäftspartner. Nun schafft der Künstler Christoph Büchel für den isländischen Biennale-Beitrag eine aufregende Aktualisierung: Die seit Langem ungenutzten Kirche Santa Maria della Misericordia hat er zu einer Moschee umgestaltet. Das ergibt zumindest pegida-haftes Erregungs-Potenzial. Zeitungen berichten vom Ärger des venezianischen Patriachen und vom Unmut der Bevölkerung. Sogar eine Schließung steht zur Debatte.
Als ich die in der Kirche inszenierte Moschee an diesem Sonntag (vor den intakten Kirchen übrigens einige Erstkommunions-Gesellschaften) besuche, ist keinerlei Aggression zu spüren. Eher herrscht eine eigenartige Andacht. Es gibt umfassende Angebote, mehr über den Glauben der Muslime zu erfahren. Ein freundlicher Imam erläutert zwei Frauen die Situation. Einmal am Tag ist Gebetsstunde, offen für alle. Die Situation wirkt gleichzeitig harmonisch und brüchig, stimmungsvoll und unstimmig. Form und Inhalt passen und passen wiederum nicht. Wieder Widersprüchliches.
Plattform
Nicht weit von der Moschee-Kirche entfernt, eine der eher unspektakulären, aber bewegenden Entdeckungen: Mit dem Projekt „Country“ präsentieren sich erstmals offiziell die australischen Ureinwohner auf einer Biennale. Ihre Kultur erweist sich als verblüffendes Beispiel vordigitaler Vernetzung, die Zeit und Raum überwindet. Allerdings traditionell-spirituell. Die ganze moderne Kommunikationstechnik dagegegen, so erfahren wir aus einem der Audio-Dokumente (!), sei Poison, Gift, für die Menschheit.
Was die großen Theoretiker in Sätze wie „Das Medium ist die Botschaft“ (McLuhan) oder „Was wir über diese Welt wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (Luhmann) gießen, führt uns Masimba Hvati aus Zimbabwe wortwörtlich vor Augen. Auch sein Werk kommentiert nicht, macht aber doch einiges klar: Wir leben auf Plattformen, in Plattformen, durch Plattformen.
Protest
Globalisierung muss aber nicht artistisch-astrakt bleiben. Wer die Konflikte um Armuts-Einwanderer konkret erleben will, der muss nur auf den Lido fahren, wo es seit Monaten den üblichen Streit um die Unterbringung eines Flüchtlingskontingents gibt. Hier treffen im vielfachen Sinne Welten aufeinander. Sorgen, Nöte und Interessen. Dies geschieht, während gerade eine neue Stadtregierung gewählt wird, nachdem die alte Spitze infolge eines Bestechungsskandals abgebrochen war.
Die Gunst weltweiter Medienpräsenz nutzten am vergangenen Wochenende die Aktivisten der Initiative NOMOSE, um genau daran zu erinnern. 4.000 Menschen protestierten gegen das Milliarden teure Flutschutzbauwerk M.O.S.E., weil sie es für naturschädlich und mafiös halten. Außerdem wenden sie sich gegen den Massentourismus, dessen Symbol die Kreuzfahrt-Giganten sind, die sich ständig mit der Wucht Zigtausender Bruttorregistertonnen am Bacino San Marco vorbeidrücken.
Die Biennale wirkt nun also sechs Monate lang als ein weiterer Magnet auf die Menschen in aller Welt: 500.000 Besucher werden erwartet. Immer weniger Venezianer müssen mit immer mehr Gästen zurecht kommen. Die Gassen verstopft, die Stätten abgegriffen, die Einheimischen bedrängt von der Gewalt touristischer Fluten. Wo bietet sich noch Rückzugsraum?
Perspektive
Möglicherweise sorgt ja die mediale Moderne für einen Ausweg, eine virtuelle Erweiterung dieser altehrwürdigen Stadt. Längst ist bereits eine augmented Serenissima entstanden. Nach Googles Gassen-Blick aus dem Sommer 2013 können wir uns nun auch durch ins Innere der Hotspots klicken. Oder den Canal Grande des 18. Jahrhunderts am Laptop abfahren.
Zu Lande, zu Wasser und – neuester Schrei – nunmehr auch in der Luft. Dem Facebook-Algorithmus als notorisch Venedig-Interessierter bekannt, erlebe ich immer öfter eine volle Bedrohnung auf der Timeline. Die fliegenden Augen der Quadro- und Oktokopter zeigen uns Venedig aus Perspektiven, die wir sonst nur aus den geigenwimmernden Intro-Flügen der Donna-Leon-Verfilmungen kennen.
Als User kann ich bei solchen Angeboten oder anderen visuellen Spielereien leichte Schwindelgefühle kaum unterdrücken. Und der Eurotechnopaniker in mir fragt: Wird bleibt der geheimnisvolle Zauber der Stadt? Gibt es noch etwas zu sehen, wenn schon alles gezeigt wurde? Dann wäre es doch konsquent, zu Hause zu bleiben und das Massentourismus-Problem wäre elegant gelöst.
Ist natürlich Quatsch. Ein Blick auf die technisch hochgerüstete Publikumsschar zeigt: Es können gar nicht genug Bilder sein, angesichts einer weltweiten, unstillbaren Sehnsucht – See-Sucht – nach diesem Ort der Orte. Am besten noch alles echt gleichzeitig. Moderne Venedig-Besucher sind extrem multitaskingfähig.
Die Ausstrahlung bleibt Venedigs Stärke. Und Problem. Jetzt und wohl auch in allen denkbaren „Zukünften“.
[…] allem die Themen Fremdheit und Flucht legten als Filter über meine Wahrnehmung. An einem universellen Schauplatz wie Venedig kann sich ein Besucher dieser Reflexion auch kaum […]