Abgesetzt – Arte und der Antisemitismus

... (Quelle: Rama/Wikimedia/CC BY-SA 3.0)

… (Quelle: Rama/Wikimedia/CC BY-SA 3.0)

Seltsame Signale auf der Social Media-Timeline: Seit Tagen dieser höchst merkwürdige Streit um die Ausstrahlung einer ARTE-Dokumentation über Antisemitismus. Dank BILD war sie heute im Netz zu sehen. Nun sehe ich klarer, blicke aber immer noch nicht durch. Muss am Thema liegen. Oder an ARTE.

UPDATE: Mittlerweile ist einiges geschehen, gesendet, gesagt. Im Prinzip sehe ich meine Beobachtungen unten eher bestätigt und mein Unverständnis angesichts der Entwicklung dieses Themas kaum ausgeräumt. Jedenfalls bin ich der Auffassung des Fachjournalisten René Martens , der sich mit diesem Lehrstück intensiv beschäftigt hat, es seien „mediengeschichtlich einmalige Vorkommnisse“. Sein Artikel sei ebenso zum Updaten empfohlen wie dieser Beitrag von Elisa Makowski.

Judenfeindlichkeit kann Menschen meiner Generation und Sozialisation einfach nicht kalt lassen. Das Grauen der Shoah ist für Kinder des Tätervolks aufwühlende Gefühlserbschaft und gedankliche Last zugleich. Antisemitismus oder Israel sind für uns Deutsche einfach keine normalen Themen. Ob links, ob rechts, ob mittig gesinnt.

Dass der deutsch-französische Kanal ARTE den Film „Auserwählt und ausgegrenzt – der Hass auf Juden in Europa“ einfach nicht senden will und die öffentlich-rechtlichen Auftraggeber dies mit Abweichungen von Absprachen sowie nicht erfüllten Standards begründen, hat zu erheblichen medienkritischen Diskussionen geführt. Es gibt Petitionen und Rezensionen.

Vielleicht könnte ich versuchen zu gutachtern und die Perspektive eines langjährigen Mitarbeiters im öffentlich-rechtlichen System beitragen. Auch mit Fehlentscheidungen kenne ich mich ganz gut aus. Aber Pustekuchen: Zwar durfte ich jetzt den Film zur Kenntnis nehmen und habe einiges zum Streit gelesen. Doch im Ergebnis verstehe ich nur Bahnhof.

Also will ich mein wenigstens qualifzierters Unverständnis frisch und angreifbar formulieren.

Ja, der Film von Sophie Hafner und Joachim Schröder ist parteiisch, teilweise polemisch. Er vertritt die These, dass sich der scheinbar regionalpolitische Nahost-Konflikt zu einem neuen, finsteren Kapitel der Judenverfolgung in Europa auswächst. Dafür liefert er reichlich Argumente und Anschauung.

Eine Anklage gegen die Ankläger: Wir sehen junge, idealistische Menschen, die in Paris gegen isrealische Besatzer-Gewalt protestieren. In Ehren ergrauten Kirchentagsfrauen mit ihren propalästinensischen Solidaritäts-Ständen. Dann Neu-Rechte und Alt-Linke. Sowie eine Uno-Sonderorganisationen mit undurchsichtigem Milliarden-Etat.

Das sollen alles Antisemiten sein. Hallo?

Und wenn doch? Oder jedenfalls ein bisschen, in Ansätzen? Der 90-Minuten-Film hat viele plausible, teilweise verstörende Belege, Beobachtungen und Bewertungen zusammengetragen. Bestimmt nicht alles, was dazu gesagt werden könnte. Doch das Dokumentierte reicht mindestens, um aktuellen Antisemitismus als Diskussionsthema auf der gesellschaftlichen Agenda weiter nach oben zu rücken. In Deutschland und Frankreich, wenn man denn wollte.

Eigentlich wäre das also eine ideale Vorlage für öffentlich-rechtliches Fernsehen. Das ja grundsätzlich auch einen sozialen Integrationsauftrag hat. Hätte ich gedacht. Aber vielleicht bin ich schon zu lange raus. Oder es fehlen mir wichtige Gesichtspunkte, die gegen eine Ausstrahlung sprechen. Den dürren Verlautbarungen der beiden Sender ARTE und WDR kann man die allerdings nicht entnehmen.

Für den Betrachter macht der Film keinesfalls einen handwerklich unsendbaren Eindruck. Seine offenkundige Subjektivität ist wiederum kein publizistisches Problem, zumal für das kritische Arte-Publikum. Ja, es böte sich sogar genug Stoff für einen Themenabend mit Debattenrunde. Die seltene ultima ratio einer Absetzung vom Programm verdient die Dokumentation nicht.

Soweit meine natürlich maximal viertel-fachliche Einschätzung. Bin ich doch bei Weitem nicht so kompetent wie die betreuende WDR-Redakteurin, die vom eigenen Sender per Pressemitteilung übrigens in den Regen gestellt wird.

Diesen besonderen symbolischen Druck, die historische Tiefe und politische Breite des Themas – all das kauft ein Sender jedenfalls mit ein, wenn er den Auftrag zu einem Dokumentarfilm über aktuellen Antisemitismus gibt. Es ist nicht irgendein Plot zu Rotwein und Cracker.

Wie sensibel das damit verknüpfte Thema Nahost-Konflikt ist, lässt sich einem Beispiel von vor einem Jahr ganz gut nachvollziehen. Da brachte die 20-Uhr-Tagesschau den Bericht über palästinensisches Dorf, dem israelische Behörden einfach so das Wasser abgedreht haben sollten. Während es bei den jüdischen Siedlern nebenan geradezu sprudelte.

Anlass und Thema wirkten für den routinierten Tagesschau-Nutzer eigenartig. Irgendwie beliebig und kleinteilig. Auch dass keine israelische Stellungnahme möglich war – seltsam. Ziemlich schnell bildete sich eine erregte Gegenöffentlichkeit im Netz. Mit einer Art Fake-News-Vorwurf. Der Geologe im Film sei palästinensisch-parteiisch, die ganze Sache ohnehin ganz anders.

Das ARD-Büro Tel Aviv, verantwortlich für den Beitrag, reagierte zügig mit einem langen Blogpost. Recherche-Hintergründe wurden erläutert, unglückliche Umstände eingeräumt.

Beim Thema Wasserversorgung in den palästinensischen Gebieten scheinen wir jedenfalls einen hochsensiblen Nerv getroffen zu haben, der einiger Richtigstellungen bedarf.

Wegen Feiertagen konnte keine offizielle israelische Stellungnahme eingeholt werden. Die Kern-Fakten seien aber korrekt. Das Sendedatum formalen planerischen Aspekten geschuldet. Für mich als Ex-Insider klang das alles plausibel. Für manchen Kritiker vielleicht weniger. Aber es war immerhin eines: transparent. Denn eines muss allen öffentlich-rechtlichen Bediensteten heutzutage klar sein: Mauern war gestern. Heute gilt: Erklären.

Aber die Krisenkommunikationsstrategen von ARTE und WDR beschreiten da andere Wege. Stattdessen ergehen sie sich in seltsam hermetischen, formalistischen Verlautbarungen, die schon in sich wenig stimmig erscheinen.

Nachdem ich diesen Dokumentarfilm gesehen habe, ahne ich, dass den Verantwortlichen die darin enthaltene Provokation unangenehm war. Zu scharf könnte der Ton des Films sein, für die Vielschichtigkeit des Problems.

Vielleicht glauben ARD und WDR, den Vorgang aussitzen zu können. So machten sie den Film erst richtig populär. Und heute lassen sie sogar der BILD mit Chefredakteur Julian Reichelt sogar einen pathetischen Auftritt, unfreiwillig, aber scheinbar schulterzuckend. Nur: Weder leben wir noch in Zeiten von „Das versendet sich.“ – noch lassen sich heikle Produktionen in einem „Giftschrank“ entsorgen.

Tatsächlich sehe ich nun klarer. Dennoch blicke ich bei dieser Geschichte immer noch nicht wirklich durch. Vielleicht kommt da ja noch was. Zur Abwechslung vielleicht mal von ARTE und WDR.

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